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Heimat verloren, Kultur im Wandel

Die nigerianische Terrororganisation Boko Haram hat Millionen von Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Wie wirken sich Zwangsvertreibung und Umsiedlung auf die Kultur aus? Dieser Frage widmet sich FRIAS Fellow Zainab Musa Shallangwa.

Frau Shallangwa, Sie untersuchen den Kulturwandel des nigerianischen Kanuri-Stammes in Folge der Anschläge durch die Terrororganisation Boko Haram. Worum geht es dabei?

Als ethnische Mehrheit im Bundesstaat Borno, dem Epizentrum der gewalttätigen Aktivitäten von Boko Haram, war das Kanuri-Volk besonders von der Terrorkampagne der fundamentalislamistischen Sekte betroffen. Die Menschen waren gezwungen, aus ihren angestammten Häusern zu fliehen und sich in Sicherheit zu bringen. In meiner Doktorarbeit habe ich die Auswirkungen der Zwangsvertreibung auf kulturelle Praktiken wie die verschiedenen Übergangsriten ins Erwachsenenleben, Geschlechterrollen und traditionelle Führungsrollen untersucht.

Mein Projekt am FRIAS geht noch einen Schritt weiter und analysiert die Realität der Menschen, die in ihre Heimatdörfer umgesiedelt wurden, nachdem im Land wieder relative Normalität herrschte.  Die darin gestellte Frage ist zweifach: Wie schafft es das Kanuri-Volk, an einem Ort, der früher vertraut wirkte, jetzt aber völlig zerstört ist, noch einmal von vorne zu beginnen, und wie hat sich das auf sein kulturelles Gedächtnis und seine kulturelle Identität ausgewirkt?

Zu welchen Ergebnissen sind Sie bisher gekommen?

Der Verlust von Heimat hat – verkürzt gesagt – sowohl den Übergang zu einem individualistischeren Lebensstil erleichtert als auch den Bruch mit ursprünglichen Gewohnheiten und Traditionen. Ein plakatives Beispiel dafür ist die Tatsache, dass die Kanuri seit ihrer Vertreibung primär als Kernfamilie zusammenleben und nicht mehr im Generationenverbund. Ein anderes, dass Hochzeiten unter Cousins und Cousinen seltener geworden sind. Zudem wurden die Geschlechterrollen neu verhandelt. Männer haben mitunter die Funktion des Alleinernährers verloren, als Frauen Zugang zu Arbeit und Geld erhielten. Diese emanzipierten sich dadurch nicht nur  vom Patriarchat, sondern wurden in einigen Fällen sogar zum Familienoberhaupt. Auch in Sachen Eherecht, bei Kinderrechten und Bestattungsritualen änderte sich vieles.

Nach der Rückkehr in ihre Dörfer halten  die Kanuri an vielen neuen Gewohnheiten fest. Gerade Frauen sind nicht bereit, ihre Privilegien aufzugeben. Gleichzeitig besteht ein starker Wunsch, wichtige Kulturgüter wie Essen, Familie und Glaube trotz des  individuellen Lebensstils e zu erhalten. Viele empfinden es als belastend, diese nicht ausüben zu können.

Kanuri Volk

Frauen versammeln sich an einer Wasserausgabestelle in einem Auffangcamp für Vertriebene im Bundesstaat Borno, Nigeria. Foto: picture alliance / Reuters / Afolabi Sotunde

Sie sind derzeit Marie-Curie-Fellow am FRIAS in Freiburg, Ihre Forschung bezieht sich auf Nigeria. Wie überwinden Sie die geografische Distanz in Ihrem Projekt?

Die Daten habe ich bereits vor meinem Aufenthalt am FRIAS gesammelt. Das hat mir die Arbeit sehr erleichtert. Ich stütze mich dabei auf die Fotovoice Methode, bei der die Studienteilnehmer:innen Kameras erhalten, mit denen sie festhalten können, was sie in ihrer Gemeinschaft für bedeutsam halten und darüber diskutieren. Anschließend senden sie mir die Bilder und erklären mir die Hintergründe zu den Motiven. Ein Teilnehmer hat mir Fotos von den Überresten des Empfangsbereichs seines Elternhauses geschickt. Er berichtete, dass sein Vater sich dort immer mit Familienmitgliedern und Gästen unterhalten hat und wie traurig es ihn macht, dieses Ritual nicht fortsetzen zu können. Um mit seinen Angehörigen Kontakt zu halten, telefoniert er nun.

Welchen Beitrag leistet Ihre Arbeit, um die Situation der Kanuri, oder anderer Vertriebener, zu verbessern?

Ich schließe eine Forschungslücke, weil die Wissenschaft der Vertreibung viel Aufmerksamkeit geschenkt hat, während sie – im Kontext des Boko-Haram-Aufstands im Nordosten Nigerias  – die Frage der Umsiedlung vernachlässigt. Die Fotovoice Methode gibt den Betroffenen eine Stimme und ermöglicht es ihnen, ihre Bedürfnisse selbst zu äußern. Mein methodischer Ansatzlässt sich auch auf verschiedene Kontexte übertragen. Wichtig ist, dass die Ergebnisse an verantwortliche Entscheider weitergegeben werden. Nur so können sie sinnvolle Rahmenbedingungen schaffen, die Betroffenen wirklich helfen.

Das FRIAS möchte das Thema Wissenschaftsfreiheit stärker in den Fokus rücken. Wie können Sie dieses Gebiet mit Ihren Erfahrungen ergänzen?

Meiner Meinung nach ist Wissenschaftsfreiheit relativ, da sie stark von den Bedingungen im jeweiligen Land abhängt. Im Vergleich zu Deutschland gibt es in Afrika gravierende Hürden beim Zugang zu Bildung, zu Finanz- und Fördermitteln und materiell meist schlecht ausgestattete Bildungsstätten. Hinzu kommen gesellschaftliche Strukturen, insbesondere die Ungleichstellung von Männern und Frauen, die die Freiheit akademischer Karrierewege beschränken. Außerdem darf über sensible Themen wie Religion nicht gesprochen werden. Und obwohl Nigeria verschiedene Chartas und Gesetze zur akademischen Freiheit und zur freien Meinungsäußerung auf internationaler und regionaler Ebene unterzeichnet hat, sind die Auswirkungen noch nicht spürbar. Die meisten afrikanischen Akademiker:innen können mit der gängigen Vorstellung von Wissenschaftsfreiheit auch nicht viel anfangen. Umso wichtiger ist es, dass wir definieren, was es für uns bedeutet.

 

Über Zainab Shallangwa

Zainab Musa Shallangwa ist Dozentin im Fachbereich Bildende Kunst der Universität Maiduguri, Nigeria. Im Jahr 2020 promovierte sie an der Universität Hildesheim mit einer Untersuchung der Erfahrungen von Vertriebenen des Kanuri-Volks, die infolge der gewalttätigen Angriffe von Boko Haram aus ihren angestammten Häusern vertrieben wurden. Zainab versteht sich leidenschaftlich als Verfechterin der Bildung – insbesondere für Mädchen. Von Oktober 2022 bis September 2023 ist sie External Junior Fellow am FRIAS im Rahmen des Marie S. Curie FCFP-Förderprogramms.

Das Interview führte Kristin Schwarz, veröffentlicht am 20.06.2023. Fotografiert von Emily Schlegel.