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"Katastrophe und Gedächtnis"

Wann 25.06.2009 um 09:00 bis
27.06.2009 um 18:00
Wo FRIAS Seminarraum, Albertstr. 19
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Verantwortlich: Dorothee Gomille, Thomas Klinkert, Günter Oesterle

Mail: dorothee.gomille@gmx.de; thomas.klinkert@romanistik.uni-freiburg.de; guenter.h.oesterle@germanistik.uni-giessen.de


Was zahlreiche menschengemachte Katastrophen – bei allen individuellen quantitativen und qualitativen Unterschieden – gemeinsam haben, ist, dass sie die sozialen Rahmenbedingungen des kollektiven Gedächtnisses zerstören; man hat in diesem Zusammenhang auch von Mnemozid gesprochen. Dies sieht man besonders deutlich an den Katastrophen der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Der Erste Weltkrieg, der Spanische Bürgerkrieg, der Zweite Weltkrieg, die Shoah, der Jugoslawische Bürgerkrieg usw. haben nicht nur zahllose Menschenleben vernichtet, sondern auch Bauwerke, Städte, Bibliotheken, Archive, Erinnerungskulturen, individuelle und kollektive Identitäten. Mit dem Verlust des kollektiven Gedächtnisses geht eine Auslöschung von Wissen über die Vergangenheit, über soziale, religiöse, politische und künstlerische Praktiken einher; was in letzter Konsequenz zerstört werden kann, ist gar die Möglichkeit, überhaupt noch zu kommunizieren (so der Tenor zahlreicher Texte über die Shoah).
Solch realgeschichtliche Auslöschung und Zerstörung hat zur Folge, dass die Kunst in ein paradoxes Verhältnis zu sich selbst gerät. Denn einerseits besitzt in der ästhetischen Theorie und Praxis seit den Avantgarden das destruktive Prinzip einen unumstößlichen Stellenwert. Man denke an den ikonoklastischen Furor der Futuristen, an die Defiguration des Bildlichen bei den Kubisten, an die Sprengung des harmonischen Systems der Musik durch die Dodekaphonie, an die Auflösung narrativer Ordnungen bei Proust, Joyce, Faulkner, Musil oder Beckett. Der realen Zerstörungswut scheint somit die künstlerische Destruktion zu entsprechen. Andererseits ist es nach wie vor eine Funktion der Kunst und speziell der Literatur, dem Zerstörungswerk der Geschichte Dauerhaftes entgegenzustellen, also am kollektiven Gedächtnis mitzuwirken. Die Paradoxie der Kunst besteht somit darin, dass sie destruktiv in Bezug auf sich selbst sein und zugleich ein konstruktives Werk der Erinnerung schaffen soll. Zu dieser Paradoxie gesellt sich eine zweite: Kunst ist einerseits gemäß den Prinzipien ästhetischer Autonomie selbstreferentiell (l’art pour l’art), andererseits will sie eine Botschaft transportieren; es handelt sich um den Widerspruch von ästhetischer und ethischer Legitimation von Kunst.
Besonders deutlich erkennbar sind solche Widersprüche in jenen Fällen, in denen Kunst sich explizit mit den realgeschichtlichen Zerstörungen des Jahrhunderts auseinandersetzt (vgl. etwa Picassos Guernica, Schönbergs A Survivor from Warsaw, Paul Celans Todesfuge, Claude Simons La Route des Flandres, Juan Goytisolos Señas de identidad, Jorge Semprúns Buchenwald-Romane, Christian Boltanskis Installationen, Thomas Bernhards Auslöschung, W. G. Sebalds Austerlitz usw.). Diese Werke sind einerseits avancierte künstlerische Leistungen mit Autonomieanspruch; andererseits richten sie an den Rezipienten den Appell, sich durch das von ihnen Dargestellte erschüttern zu lassen. Ihren eigenen paradoxen Status reflektieren sie häufig selbstreferentiell und ermöglichen dabei Aufschlüsse über den Stellenwert und die Funktion der Kunst in der fragmentierten und spezialisierten Gesellschaft der Moderne.
In dem geplanten Kolloquium wären solche und vergleichbare Werke daraufhin zu befragen, welche Erkenntnisse sie über die mnemonische Funktion der Kunst ermöglichen. Dies sollte eingedenk der Tatsache geschehen, dass es in der technisch-wissenschaftlichen Gesellschaft der Moderne angesichts der funktionalen Ausdifferenzierung eigentlich nicht die primäre Aufgabe der Kunst ist, Gedächtnis zu stiften, weil für diese Funktion in erster Linie die Wissenschaft und technische Speichermedien zuständig sind. Betrachtet man das Panorama der Erinnerungs- und Gedächtnisforschung der letzten Jahrzehnte, so erkennt man eine Differenz von identitätsstabilisierenden Modellen des kollektiven Gedächtnisses (A. und J. Assmann, A. Erll) und identitätsdekomponierenden Hybridgedächtniskonzepten (A. Hahn, R. Lachmann, A. Langenohl). Diese Differenz wäre im Hinblick auf die der Kunst selbst eingeschriebene Widersprüchlichkeit von Vergangenheitsbewahrung und Vergangenheitszerstörung zu befragen.

 

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