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Text-Architekturen: Baukunst (in) der Literatur

Wann 01.12.2011 um 09:00 bis
03.12.2011 um 16:00
Wo FRIAS, Seminarraum
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Bericht von Sarah Pogoda, FU Berlin (spogoda@zedat.fu-berlin.de)
H-Germanistik Discussion-Log


Um den vielfältigen und komplexen Wechselbeziehungen zwischen Literatur und Architektur nachzugehen, versammelte die School of Language & Literature des Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) unter Federführung von Dr. Robert Krause und Jun.-Prof. Dr. Evi Zemanek Wissenschaftler aus philologischen und kunsthistorischen Disziplinen zu einer dreitägigen Tagung (1.-3. Dezember 2011). Die Breite der Annäherungen an die „Baukunst (in) der Literatur“, wie sie sich in den Vorträgen abzeichnete, verdeutlichte nicht nur, wie stark das – selbst mit dem 'spatial turn' – nicht unbedingt systematisch perspektivierte Forschungsfeld sich unabhängig und dezentral ausdifferenziert hat sondern auch inwiefern ein endliches Zusammentreffen versierter Forscher längst überfällig gewesen ist.

Die wechselseitigen Beziehungen zwischen Literatur und Architektur erhielten im letzten Jahrzehnt gerade auch im Zuge des 'spatial turn' recht viel wissenschaftliche Aufmerksamkeit – die material- und erkenntnisreiche Ausstellung „Architektur wie sie im Buche steht“ in der Münchener Pinakothek der Moderne [1] machte das Thema auch einer nichtwissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich. Detlev Schöttker rief 2005 im „Merkur“ gar mit gebotener Zurückhaltung einen „architectonic turn“ aus. [2] Neben Arbeiten von ihm (2006) [3], Jens Bisky (2000) [4] und Hans-Georg von Arburg (2008) [5], die sich dem Austausch der Disziplinen in ästhetischen Diskursen widmen, finden sich vor allem Untersuchungen architektonischer Motive, beispielhafter Bauwerke in literarischen Texten als Beispiele von Intermedialität (Nerdinger 2006; Heinz Brüggemann 2002 [6]; Robert Hodonyi 2010 [7]) oder zu fiktiven Bauwerken und ihren komplexen metaphorischen, narratologischen oder philosophischen Funktionen (Harald Tausch 2006 [8], Carsten Lange 2007 [9]), nicht zu vergessen die kaum zu überschätzende Rolle der Architektur in literarischen Utopien (Sabine Rahmsdorf 1999 [10]; Margrid Bircken und Heide Hampel 2005 [11]). Die eingeladenen Konferenzteilnehmer bildeten dieses Forschungsfeld repräsentativ ab und erweiterten den interdisziplinären Rahmen, worauf die Veranstalter besonders abgezielt hatten, wie sie in ihrem Eröffnungsvortrag darlegten. Denn über die thematologischen Fragestellungen hinaus sollte die europäische Literatur nach den motivischen, narrativen, poetologischen, sozial- und kulturgeschichtlichen, ästhetischen und epistemologischen Implikationen literarischer Architekturen in intermedialer Hinsicht befragt werden, um (epochen-)geschichtliche Verschiebungen und Brüche herauszuarbeiten. Ebenso galt es, die bestimmenden Paradigmen des 'spatial turn' durch textnahe Detailanalysen zu überprüfen und den heuristischen Gewinn von Architekturmetaphern in der Literaturwissenschaft (z.B. in der Rede von der „Architektur eines Textes“) abzuwägen.

Sinngemäß gliederte sich die Konferenz in fünf Panels. Am Freitagnachmittag eröffnete ANJA GERIGK (München) das erste Panel „Forschungstendenzen und Perspektiven“ mit einer „(inter)medialen Selbstkritik des Spatial Turn“ anhand von Hermann Burgers Roman „Schilten“ (1976). Im Mittelpunkt ihres Vortrages stand die präzise Rekonstruktion der Überlagerung von Raum und Schrift in Gestalt der Gymnastikhalle und Schildknechts Sudelheften (sie haben die gleichen Grundrissmaße). An deren schizophrenen Räumen, so Gerigks These, lasse sich eine Selbstkritik des Raumschemas, wie es noch die Wahrnehmungsästhetik des 19. Jahrhunderts bestimmte, nachvollziehen. Sie münde in aktuelle kulturwissenschaftliche Positionen, nach denen der Raum nicht nur bedingt, sondern zugleich auch bedingend ist – heterofunktional und strukturell gespalten, sowohl subjektiv erlebt als auch sozial konstruiert. Die Schizophrenie – bei Burger noch als pathologisch inszeniert – gilt spätestens mit Michael Foucaults Heterotopiebegriff als Normalfall. Die Herausforderung der Literatur nun ist es, so Gerigk weiter, diese Spaltung zugleich zu erkennen und zu vermitteln. Burger gelinge dies in der Überlappung von Gymnastiksaal und Sudelhefen, ein weiteres Beispiel findet sich mit der gegenseitigen Bedingtheit von Roithammers Kegel und der Höllerschen Dachkammer in Thomas Bernhards Roman „Korrektur“. Im Anschluss gab Gerigks Vortrag Anlass, das Raumparadigma des 'spatial turn' zu überdenken und zum Beispiel die einschlägigen, wenn auch inzwischen historischen Arbeiten wie Gaston Bachelards „La Poétique de l’éspace“ (1957) oder Otto Friedrich Bollnows „Mensch und Raum“ (1963) dringend zu ergänzen, zum Beispiel durch soziologische Arbeiten von Émile Durkheim und H. Walter Schmitz oder der dreibändigen Raumanthropologie Peter Sloterdijks („Sphären“ 1998-2004) [12].

STEPHANIE ALICE GLASER (Kopenhagen) erweiterte die medienkomparatistische Annäherung an die Tagungsthematik mit einer materialreichen und textnahen Erarbeitung medialer Korrespondenzen in einschlägigen literarischen Texten von Victor Hugo bis Jacek Dukaj. Ihre Analyse des narrativen Beitrags von Architektur fokussierte das Problem der Übersetzung dreidimensionaler Architektur in die Zweidimensionalität und destillierte drei Strategien: 1. ekphrastische Architektur dient der Verortung oder Diegese einer Szenerie; 2. Architektur und Erzählung verschmelzen, so dass erzählte Architektur und Handlungsabläufe ineinandergreifen (Beispiel: die dramatische Asyl-Szene in der Kirche von Nôtre-Dame in Victor Hugos „Nôtre-Dame de Paris“); 3. die ekphrastische Verweigerung: der Leser erhält keine bildhafte Vorstellung der Architektur nur eine Benennung (Beispiel: „Zanim noc“ von Jacek Dukaj). Mit ihrem Vortrag gab Glaser der Literaturwissenschaft grundlegende Kategorien zur Hand, mit denen die Narrativierung von Architektur systematisch erfasst werden kann.

Das zweite Panel des Tages war der „Poetik der Kathedrale“ gewidmet, und ULRICH ERNST (Wuppertal) schloss mit seinem Vortrag „Der Roman als Kathedrale. Hugo – Huysmans – Proust“ an Glasers Überlegungen an, indem er die narrativen Resultate räumlich dramatisierter Erzählung auf poetologische Konzepte zurückführte. Die ausgewählten französischen Autoren konzipierten ihre Romane wie den Bau einer Kathedrale. Erstmals schwang in diesem Vortrag die metaphorische Selbstbestimmung von Dichtern als Baumeister bzw. der Dichtung als Baukunst mit, wie sie im Laufe der Tagung noch mehrmals eine Rolle spielen sollte. Hugos Proklamation: „Das Buch wird das Gebäude töten“ ist nicht nur ein sinnfälliger Schlachtruf der aufkommenden Medienkonkurrenz, sondern zugleich die Usurpation der Herrschaft über Wissen und Gedächtnis, wie sie einst die Architektur innehatte. Die enzyklopädischen Romane Huysmans sowie Prousts durchgeplantes Romankonstrukt der „Recherche du temps perdu“ teilen Hugos Anspruch und belegten damit Ernsts These, dass der Roman ähnlich der mittelalterlichen und neuzeitlichen Kathedrale zum Archiv des Wissens seiner Zeit avancierte.

SONIA GOLDBLUM (Paris) konnte dann in ihrem Vortrag „Die Meereskathedrale. Zur Metapher des Sakralbaus in Hugos ‚Les Travailleurs de la Mer‘“ auf die Thesen Ernsts aufbauen, insofern auch in diesem Roman mittels Architekturbeschreibung und Architekturmetaphorik der Anspruch auf universale Welterfassung im Imaginären der Literatur erhoben wird. Am Beispiel vom Felsenstuhl legte Goldblum dar, wie Architektur als Maßstab der Naturbeschreibung fungiere, Landschaft mittels Metaphorisierung schließlich zur Architektur werde. Hugo, so konnte Goldblum ihren Vortrag schließlich pointieren, inszeniere sich als Demiurg, als göttlicher Architekt.

Durch und durch menschlichen Architekten schenkte dann im Abendvortrag der Architekturhistoriker WINFRIED NERDINGER (München) seine Aufmerksamkeit. Bereits Ende 2006 hatte er mit der prominenten und umfangreichen Ausstellung „Architektur wie sie im Buche steht“ in der Pinakothek der Moderne Einblicke in die Wirkung von Literatur auf die Baukunst eröffnet. [13] Einleitend sprach er, wie im Programm angekündigt, über die „Präsentation des Themas 'Architektur und Literatur' in Ausstellungen und Museen“, indem er Architekturmodelle vorstellte, die er von Studenten hatte anfertigen lassen – und zwar aus literarischen Vorlagen, wie den Kegelbau aus Thomas Bernhards Roman „Korrektur“ (1974). Anhand dieses Beispiels griff Nerdinger weiter aus, veranschaulichte die Vagheit textlicher Bauwerke, da selbst solch minutiös detaillierte Beschreibungen eines Bauwerkes wie des strengen Kegelbaus Roithamers äußerst divergente Interpretationen zuließen. Über die Kegelform hinaus nämlich glichen sich die Modelle der Architekturstudenten kaum. In Umkehrung der Perspektive von Stephanie Alice Glaser am Vormittag führte Nerdinger die Schwierigkeiten des Übersetzungsprozesses vom zweidimensionalen Text zur räumlich-materiellen Architektur vor und musste abschließend konstatieren, dass die Literatur die Architekten doch um einiges geringer inspiriert hätten (Beispiele wie die Burg Lichtenstein bilden die Ausnahme) als die Baukunst die Dichter.

Der zweite Tagungstag begann in dem Panel „Architekturen des Realismus“ mit UTA SCHÜRMANNS (Berlin) Vortrag „Die verschwundene Sammlung. Leere Räume in Texten des europäischen Realismus“. Gleich zu Beginn ihres Vortrages stellte Schürmann die provokante Frage, inwiefern die übervollen Innenräume des Realismus für die Wechselbeziehungen von Literatur und Architektur überhaupt Erkenntnisse zuließen. Die folgende Betrachtung des Hauses Instettens in Theodor Fontanes Roman „Effi Briest“ konzentrierte sich daraufhin auf den leeren Raum, der im auffälligen Kontrast zu „typisch“ überfüllten Räumen des Realismus steht. Darüber erarbeite Schürmann das Konzept der „Anti-Sammlung“, die gegenüber der Präsentation der Dinge im überfüllten Raum der Sammlung einzig die Spur der abwesenden Dinge im leeren Raum erfasse. Ihr einstimmendes Zitat aus Lewis Carrolls „Alice’s Adventures in Wonderland“ (1865) zeigte außerdem, dass eine Verschiebung der Aufmerksamkeit von den technischen und konstruktiven Aspekten der Baukunst zu der Wirkung arrangierter Räume auf die menschliche Physiologie und Psyche, die Aufnahme der Fragestellungen von Architektur und Literatur auch bei Werken des Realismus berechtigt.

In dem anschließenden Vortrag „Wie Figura zeigt. Zur Kritik allegorischer Literaturinterpretationen am Beispiel von Stifters Erzählung ‚Die Narrenburg‘“ stellte HANS-GEORG VON ARBURG (Lausanne) den gängigen allegorischen Lesarten des Romans eine alternative Auslegung gegenüber. Anlass dazu gab erstens, dass die poetologischen Bezüge in der Studienfassung zurücktreten und dadurch die bisherige Engführung von Architektur und Schrift nicht länger als unbedingt zutreffend postuliert werden sollte. Zweitens zielte von Arburgs Lesart darauf, die hermeneutische Geschlossenheit der allegorischen Lesart zu öffnen. Dazu verschob er die Perspektive auf das Erzähldispositiv und wies nach, dass dieses auf Architekturdebatten seiner Zeit, nämlich den Historismus, Bezug nimmt.

HARALD TAUSCH (Gießen) führte in seinem Vortrag „Architektur als Antwort: Raabe und Fontane“ die beiden Kriminalgeschichten „Unterm Birnbaum“ (1885) und „Stopfkuchen“ (1890) zusammen. Indem er Architekturzeichnungen der „Tatorte“ sowie ihre literarischen Beschreibungen übereinanderlegte, wies er – geradezu detektivisch – die intertextuellen Bezüge zu Fontanes Erzählung in Raabes „Stopfkuchen“ nach. Raabe, so seine zentrale These, habe über die Architektur Antworten auf die offenen Fragen bei Fontane gefunden und dann in seinem Roman die tatsächlichen Bedingungen des Mordes an Szulski – wenn auch verschlüsselt – dargestellt.
Wie auch von Arburg belegt Tausch mit seinem Vortrag die Erkenntnisgewinne der Literaturwissenschaft durch den architektonisch kompetenten Blick auf literarische Texte. Gängige geschlossene Deutungen können auf diese Weise aufgebrochen werden, die Funde wiederum kommen nicht nur für die Fragestellungen zu Wechselbeziehungen zwischen Architektur und Literatur oder einer spezialisierten intermedialen Literaturwissenschaft zu Gute, sondern dem ganzen Fach.

Beschlossen wurde das Panel von THOMAS FLUM (Freiburg). Der Kunsthistoriker untersuchte, wie die Neugestaltung von Paris unter Georges-Eugène Haussmann in Émile Zolas literarisches Werk einging. In „La curée“ (1871) zum Beispiel thematisiert Zola, über Insiderinfos verfügend, die (illegale) Spekulation mit und Bereicherung weniger Einzelner an Grundstücken und Immobilien, wie sie durch die progressive Stadtentwicklungspolitik Haussmanns ermöglicht wurden. Und im ‚Kaufhausroman‘ „Au bonheur des dames“ (1883) schildert Zola die Verdrängung des Einzelhandels durch die modernen Großwarenhäuser. Die Neuordnung von Paris unter Haussmann bedeutete – so eines der Ergebnisse – eben nicht bloß eine stadtplanerische Umgestaltung, sondern sie katalysierte stets auch sozioökonomische Umbrüche, von denen das veränderte Stadtbild und ganz besonders seine Architektur zeugten. Indem Flum mit den Wirtschaftsfaktoren Aspekte der Architektur jenseits der Ästhetik integrierte, regte er Überlegungen an, ob es eine Ästhetik der Ökonomie gebe oder die ökonomische Dimension der Architektur in der Literatur bislang unästhetisch geblieben sei.
Schürmann, Tausch und Flum, so wurde an diesem Tag deutlich, stellten die Sichtbarkeit als eines der wichtigsten Paradigmen der Architektur heraus, insofern Bauwerke Perspektiven auf Gegenwärtiges wie Vergangenes sowohl eröffnen als auch verstellen können.

Das bereitete einen Übergang in das zweite Panel des Tages „Fragmente der Moderne“, das sich mit den Vorträgen von SABINA BECKER (Freiburg) und DETLEV SCHÖTTKER (Dresden) dem modernen Phänomen des Flaneurs in Person Walter Benjamins näherte. Für BECKER bedurfte Benjamins Flanerie geradezu unabdingbar der Passage. Einzig hier käme die Moderne zum Stillstand, könne die Großstadterfahrung der Moderne schauend, flanierend und schreibend erfasst und somit bewältigt werden. Dazu werde in der Passage der Außenraum als Innenraum angeeignet, Raum zur „les- und schreibbaren“ visuellen Oberfläche reduziert (ähnlich wie zeitgleich in Film und Fotografie). Um diesen Befund zu stärken, stellte Becker mit Franz Hessel einen höchst mobilen Flaneur vor, der das Berlin des frühen 20. Jahrhunderts eben nicht mehr zu Fuß, sondern mit dem Auto eroberte, die Stadt also Außenraum bleibe und als solcher erfahren werde. Schöttkers provokanter Einwurf, ob Benjamins Auratisierung der Passage letztlich nicht fordere, seinen etablierten Ruf als Vertreter der Moderne zu revidieren, regte die Diskussion im Anschluss an. In seinem Vortrag rekonstruierte Schöttker über diverse Stationen Genese und Facetten der Denkfigur Architektur bei Benjamin. Seine Zusammenführung von Interieur und Geschichte begann in Neapel und endete im Paris der Jahrhundertwende. War Benjamins Porträt Neapels (1925) geprägt von der Faszination für das Poröse, das der starren Architektur eine anarchische Kontingenz gegenüberstellen konnte, erkannte Benjamin in seinem Städteporträt Weimars (1928) angesichts der (Innen-)Architektur des Goethe-Hauses die architektonische Disziplinierung der Gedanken und Formen. Auch die „Berliner Kindheit“ (1932-34) setzte Benjamins Einsicht um, dass Architekturformen Denkweisen prägen. Ein Gedanke, der in Benjamins Blick auf Paris konzentrisch zugespitzt werde, da er die Stadt zur architektonischen Monade stilisiere und eine Kulturtheorie der Architektur ableite, die die kapitalistische Welt genuin erfassen wolle.

Panel und Tagungstag beschloss CORD-FRIEDRICH BERGHAHN, der sich „Sebalds Architekturen“ widmete. Er rekonstruierte anhand von „Austerlitz“ Sebalds Theorie der sinnlichen Wahrnehmung, die Sebald diskursiv über die typologischen Muster von Architektur erarbeitete (mit dem Nachweis der Familienähnlichkeit zwischen bestimmten Bauten wie zum Beispiel zwischen Justizpalast und NS-Architektur) und auch durch die Integration von Fotografie und Grafiken im Roman vermittelte. Sebalds Theorie, so schränkte Berghahn die Befunde jedoch ein, könne allerdings einzig das Bilddenken im Roman erschließen, nicht aber dessen Handlung.

Der letzte Tagungstag begann mit STEFANIE FRICKES (München) Vortrag „Antizipierte Ruinen in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts“ im Panel „Architekturen des Unheimlichen“. Anhand von Bild- und Textmaterialien stellte sie englische Ruinendarstellungen des 19. Jahrhunderts vor. Vom Untergang einstiger Hochkulturen zeugend, artikuliere sich in den Ruinendarstellungen des 19. Jahrhunderts ein Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit des Britischen Empire. Fricke kontextualisierte diese architektonischen Memento Mori einer Krisenstimmung innerhalb der Umbrüche, die die britische Gesellschaft im 19. Jahrhundert erfuhr. Im Anschluss regte sich ein Nachdenken darüber an, dass die Ruine eben nicht nur den Zerfall (eines Imperiums, einer Gesellschaft) veranschaulichen und bildlich auf den Punkt bringen konnte, sondern auch in sich bereits eine Katharsis birgt, insofern die Überwindung der Krise und in ihr eine utopische Zukunft erscheinen könne. Sie kann sowohl Hort von Melancholie als auch von Erneuerungshoffnungen sein und ist daher mit Ambivalenz ausgestattet.
EDITH ANNA KUNZ (Genf) nahm mit ihrem Vortrag zu Fontanes Innenarchitekturen in „Effi Briest“ einen Faden des vorherigen Tages auf. Durch textnahe Beobachtungen und wortgeschichtliche Nachforschungen konnte die Interpretin zeigen, inwiefern das Kessiner Heim ambivalent erscheint, ist es doch laut Aussage Effis „gemütlich und unheimlich zugleich“. Antizipiert scheinen hierbei Sigmund Freuds Begriffe und seine Diagnosen signifikanter Verdrängungsleistungen, denn der ‚wunde Punkt‘ der Romanfiguren wird bei Fontane diskret auf die topographische und architektonische Ebene verschoben, wie Edith Anna Kunz argumentierte.

Am Schluss nahm sich die Tagung literarischen Texten und Architekturen der Postmoderne an. JULIA WEBER (Berlin) eröffnete dies mit Daniel Z. Danielewskis „House of Leaves“ (2000) und hatte sich einer mehrfachen Herausforderung zu stellen: Zum einen vermittelte sie eine Leseanleitung für die imaginären, narrativen und typographischen Textlabyrinthe und -spiralen, zum anderen präsentierte sie einen Rezeptionsbericht und zugleich eine kritische Analyse des poetologischen Konzepts dieses Romans, der die Theorien des 'spatial turn', inklusive des antizipierten architectonic turn, nicht nur aufgesogen, sondern realisiert und reflektiert hat. Julia Weber fand in ihrem Vortrag einen überzeugenden Zugang zu solchen postmodernen Texten, die die eigene Interpretation der Literatur- und Kulturwissenschaft aushebelt, indem deren Theorien und Methoden im literarischen Text selbstbeschreibend integriert worden sind. Das inszenierte Textlabyrinth Danielewskis bildete freilich ein hochkomplexes Gegenbeispiel zu den transparenten und wohlorganisierten Textkathedralen von Hugo, Proust oder Huysmans.

Einen ähnlich anti-architektonischen Text stellte abschließend SARAH POGODA (Berlin) vor. Mit Christoph Geisers antinarrativer Fiktion „Die Baumeister“ (1998) ließe sich, so die finale These Pogodas, über die Grenzen der metaphorischen Rede von der Baukunst der Literatur streiten. Wo beginnt und wo endet die Architektur der Literatur? Lassen sich textuelle Kompositionen wie die Danielewskis oder Geisers noch als Architekturen beschreiben, obwohl sie gerade jede strenge architektonische Ordnung unterlaufen oder ist Literatur nicht eigentlich immer Architektur? Damit schloss sich am Ende die Klammer der Tagung, die am ersten Tag noch selbstbewusste Dichterdemiurgen, die sich in die Tradition der großen Baumeister der Jahrhunderte einzureihen gedachten, vorstellte und am letzten Tag Verunsicherungen solch demiurgischer Bemühungen präsentierte, die den Leser nicht in eine Textkathedrale des Weltwissens, in die überfüllten Räume des Realismus oder vor die Oberflächen der Passagenmoderne, sondern in die labyrinthischen und entropischen Anarchitekturen einer hochreflexiven Postmoderne versetzte.

Die Tagung bewies das heuristische Potential, das sich der Literaturwissenschaft durch den Architekturzugang eröffnet. Deutlich wurde, dass das Forschungsfeld bereits breite Claims abgesteckt hat und - über die Suche nach Ansätzen längst hinaus - in präzisen Detailanalysen sich auffächert. Dennoch kam im Laufe der Konferenz zutage, dass zum Beispiel die Ökonomie der Architektur in der Literatur noch zu sichten und zu sondieren wäre. Außerdem steht eine systematische Darstellung der philosophischen und semantischen Dimensionen des Architekturbegriffes noch aus, mit dem eigentlich erst eine Grundlage für die Anwendung der Architekturmetapher in der Literaturwissenschaft zu schaffen wäre. Worin zum Beispiel liegen begriffsgeschichtlich und philosophisch die Analogien der architektonischen und der literarischen Poiesis? Warum übersehen wir geflissentlich den gravierenden Unterscheid zwischen einem materiell bauenden Architekten und einem immateriell dichtenden Schriftsteller? Und welche Unterschiede bestehen zwischen einem architektonischen und einem dichterischen Werk, zwischen der Arbeit des Architekten und der Autorschaft des Schriftstellers? Ist der Hausbewohner dem Leser analog? Hat die Tagung also zahlreiche Türen zur „Baukunst (in) der Literatur“ geöffnet, reihen sich doch noch zahlreiche ungeöffnete entlang des Flures.


Anmerkungen:

  • [1] Nerdinger, Winfried (Hrsg.): Architektur wie sie im Buche steht. Fiktive Bauten und Städte in der Literatur (erscheint anlässlich der Ausstellung »Architektur wie sie im Buche steht. Fiktive Bauten und Städte in der Literatur« im Architekturmuseum der TU München in der Pinakothek der Moderne vom 8. Dezember 2006 bis 11. März 2007), Salzburg 2006.
  • [2] Schöttker, Detlev: Das Zimmer im Kopf. Wann kommt eigentlich der „architectonic turn“?, in: Merkur 59 (2005), Heft 680, S. 1191-1195.
  • [3] Schöttker, Detlev: Architektur als Literatur. Zu Geschichte und Theorie eines ästhetischen Dispositivs, in: Meyer, Urs; Simanowski, Roberto und Zeller, Christoph (Hrsg.): Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren, Göttingen 2006, S. 131-151.
  • [4] Bisky, Jens: Poesie der Baukunst. Architekturästhetik von Winckelmann bis Boisserée, Weimar 2000.
  • [5] Arburg, Hans-Georg von: Alles Fassade. „Oberfläche“ in der deutschsprachigen Architektur- und Literaturästhetik 1770 - 1870, München 2008.
  • [6] Brüggemann, Heinz: Architekturen des Augenblicks. Raum-Bilder und Bild-Räume einer urbanen Moderne in Literatur, Kunst und Architektur des 20. Jahrhunderts, Hannover 2002.
  • [7] Hodonyi, Robert: Von Baustelle zu Baustelle. Ein Streifzug durch die Geschichte des Architektenmotivs in der Literatur, in: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften 54 (2008), Heft 4, S. 589-608. Außerdem Gerhard Goebels: Poeta Faber. Erdichtete Architektur in der italienischen, spanischen und französischen Literatur der Renaissance und des Barock, Heidelberg 1971. Christian W. Thomson: Literarchitektur. Wechselwirkungen zwischen Architektur, Literatur und Kunst im 20. Jahrhundert, Köln 1989.
  • [8]Tausch, Harald: „Die Architektur ist die Nachtseite der Kunst“. Erdichtete Architekturen und Gärten in der deutschsprachigen Literatur zwischen Frühaufklärung und Romantik, Würzburg 2006.
  • [9] Lange, Carsten: Architekturen der Psyche. Raumdarstellungen in der Literatur der Romantik, Würzburg 2007.
  • [10] Rahmsdorf, Sabine: Stadt und Architektur in der literarischen Utopie der frühen Neuzeit, Heidelberg 1999.
  • [11] Bircken, Margrid und Hampel, Heide (Hrsg.): Architektur und Literatur in der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Beiträge zu einer wissenschaftlichen Konferenz in Neubrandenburg 2003, Neubrandenburg 2005.
  • [12] Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes, aus dem Französischen von Kurt Leonhard, Frankfurt am Main 1987, Bollnow, Otto Friedrich: Mensch und Raum, Stuttgart 1963; Sloterdijk, Peter: Sphären. Plurale Sphärologie. Drei Bände: Blasen (1998), Globen (1999), Schäume (2004), Frankfurt am Main 1998-2004.
  • [13] Katalog: Architektur wie sie im Buche steht. Fiktive Bauten und Städte in der Literatur. Salzburg 2006.

 

Sarah Pogoda, Januar 2012

 

PROGRAMM

Donnerstag, 1. Dezember 2011

14.15 Empfang und Begrüßung


14.30 Text-Architekturen

Einführung in die Baukunst der Literatur

Dr. ROBERT KRAUSE,

Jun.Prof. Dr. EVI ZEMANEK

 

Sektion: Forschungstendenzen und Perspektiven


15.00 Dr. ANJA GERIGK (Uni München):

Eine intermediale (Selbst-)Kritik des Spatial Turn


15.45 Dr. STEPHANIE A. GLASER (Uni Lund):

Embedded in the Text:

Architecture, Narrative, and Intermediality


16.45 Kaffeepause

Sektion: Poetik der Kathedrale


17.15 Prof. Dr. ULRICH ERNST (Uni Wuppertal):

Der Roman als Kathedrale

Hugo – Huysmans – Proust


18.00 Dr. SONIA GOLDBLUM (Uni Paris 8):

Die Meereskathedrale

Zur Metapher des Sakralbaus in Hugos Les Travailleurs de la Mer


19.00 gemeinsames Abendessen der Teilnehmer



20.30 Prof. Dr.-Ing. WINFRIED NERDINGER (TU-München):

Präsentation des Themas ‚Architektur und Literatur‘ in Ausstellungen und Museen


Freitag, 2. Dezember 2011

Sektion: Architekturen des Realismus


9.15 UTA SCHÜRMANN (FU-Berlin):

Die verschwundene Sammlung

Leere Räume in Texten des europäischen Realismus


10.00 Prof. Dr. HANS-GEORG VON ARBURG (Uni Lausanne):

Wie Figura zeigt

Zur Kritik allegorischer Literaturinterpretationen am Bei-spiel von Stifters Erzählung Die Narrenburg


11.00 Kaffeepause


11.30 PD. Dr. HARALD TAUSCH (Uni Gießen):

Architektur als Antwort: Raabe und Fontane


12.15 Dr. THOMAS FLUM (Uni Freiburg):

Zola und die Neugestaltung von Paris unter Haussmann


13.00 gemeinsame Mittagspause der Teilnehmer

Sektion: Fragmente der Moderne


14.30 Prof. Dr. DETLEV SCHÖTTKER (TU-Dresden):

Interieur und Geschichte

Walter Benjamin und die Architektur


15.15 Prof. Dr. SABINA BECKER (Uni Freiburg):

Textpassagen

Flanerie und Architektur in der literarischen Moderne


16.15 Kaffeepause


17.30 PD. Dr. CORD-FRIEDRICH BERGHAHN (TU-Braunschweig):

Sebalds Architekturen


19.00 gemeinsames Abendessen der Teilnehmer


Samstag, 3. Dezember 2011

Sektion: Architekturen des Unheimlichen


9.15 Dr. STEFANIE FRICKE (Uni München):

Antizipierte Ruinen in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts


10.00 Dr. EDITH ANNA KUNZ (Uni Genf)

„gemütlich und unheimlich zugleich“

– Innenarchitekturen in Fontanes Effi Briest


11.00 Kaffeepause


11.30 Dr. JULIA WEBER (FU-Berlin):

Expeditionen ins Innere des House of Leaves

Mark Z. Danielewskis Erzähl- und Raumarchitekturen


12.15 SARAH POGODA (FU Berlin):

Anti-Architekten und Anarchitektur als Figuren der Krise


13.00 Zusammenfassung und Verabschiedung



Redaktionelle Betreuung: Alexander Nebrig