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Der ganze Mensch – die ganze Menschheit: Völkerkundliche Anthropologie, Literatur und Ästhetik um 1800

Wann 22.11.2012 um 08:00 bis
24.11.2012 um 18:00
Wo FRIAS, Albertstr. 19, Großer Seminarraum
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Teilnehmer universitätsoffen
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Organisation: Stefan Hermes, Sebastian Kaufmann (Deutsches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg)

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Jede Kunst verlangt den ganzen Menschen,

der höchstmögliche Grad derselben die ganze Menschheit“ (Goethe)

 

 

Tagungsbericht von Benjamin Dober und Felix Reinhuber (Studierende der Universität Freiburg)

Auf Initiative von Stefan Hermes und Sebastian Kaufmann kamen LiteraturwissenschaftlerInnen aus Deutschland und der Schweiz zu einer dreitägigen Tagung der FRIAS School of Language & Literature (22.-24. November 2012) zusammen, um sich über die Wechselwirkungen zwischen Anthropologie, Völkerkunde, Literatur und Ästhetik ‚um 1800‘ auszutauschen. In den Zeitraum zwischen 1750 und 1830 fällt nicht nur die Entstehung des ‚modernen‘ europäischen Nationalismus und der damit verbundenen Konkurrenz zwischen den europäischen Nationen, sondern auch das ‚zweite Entdeckungszeitalter‘ mit seinem intensiven Interesse an außereuropäischen Kulturen. Insbesondere dadurch ermöglicht die Auseinandersetzung mit dieser Epoche eine vielversprechende Erweiterung der Forschungsperspektive Literarische Anthropologie, die sich seit nunmehr zwei Jahrzehnten in der Germanistik etabliert hat: Während die bisherige Forschung primär philosophische, physiologische und psychologische Aspekte des Allgemein-Menschlichen in den Vordergrund gerückt hatte, war es das erklärte Ziel der Tagung, vor allem die Wahrnehmung des kulturell Anderen in der damaligen literarischen Praxis und ästhetischen Theorie in den Blick zu nehmen. Das Vorhaben bestand also darin, dem Konzept des ‚ganzen Menschen‘ das Konzept der ‚ganzen Menschheit‘ kontrastierend, aber auch ergänzend an die Seite zu stellen, um dem Spannungsverhältnis zwischen aufklärerischem Universalismus und anthropologischem Relativismus nachzuspüren. In theoretischer Hinsicht ging es dabei nicht zuletzt um die Verbindung neuerer kulturwissenschaftlicher Ansätze mit etablierten hermeneutischen Zugangsweisen.

Wolfgang Riedel (Würzburg) legte in seinem Vortrag über „Herkunft und Perspektiven des Forschungsparadigmas Literarische Anthropologie. Von Menschen und Tieren“ die vielfältigen Wurzeln der anthropologisch orientierten Literaturwissenschaft frei. Diese habe sich zwar erst in den 1980/90er Jahren herausgebildet, sie finde sich jedoch schon bei Emil Staiger seit den 1930er Jahren vorgeprägt. Auch sei bereits in den literarischen Werken Döblins oder Musils, in der Faszination für Animismus und Totemismus um 1900 sowie in Freuds Psychoanalyse ein starkes anthropologisches Interesse zu erkennen. Als wegbereitend für die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft charakterisierte Riedel schließlich Hartmut und Gernot Böhmes Monographie Das Andere der Vernunft (1983). Überdies betonte er, dass es der literarischen Anthropologie nicht darum gehen könne, literarische Texte bloß unter kulturanthropologischer Perspektive zu betrachten, da die Literatur selbst eine ganz eigene Form anthropologischen ‚Wissens‘ generiere. In den letzten Jahren ist laut Riedel vor allem das Tier in den Fokus der anthropologisch-literaturwissenschaftlichen Forschung gerückt. Im Zuge der Etablierung der Animal Studies in der aktuellen Literaturwissenschaft stelle sich zunehmend die Frage nach der Möglichkeit eines nicht-dualistischen Denkens, das ohne Rekurs auf die traditionelle Mensch-Tier-Differenz auskommt.

Sebastian Kaufmann (Freiburg) befasste sich unter dem Titel „Die ‚Ästhetik des Wilden‘ in Kants Kritik der Urteilskraft und Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ mit dem anthropologischen Interesse an außereuropäischen Völkern innerhalb der ästhetischen Theorie um 1800. Ausgehend von dem Befund, dass in der zeitgenössischen Ästhetik vielfach die körperliche Schönheit oder Hässlichkeit des ‚Wilden‘ sowie die ihm zukommende bzw. fehlende Wahrnehmungs- und Gestaltungsfähigkeit des Schönen zur Debatte stehe, wies Kaufmann zunächst auf das Spannungsverhältnis zwischen Kants hierarchischer Rassentheorie und seinem anthropologischen Universalismus hin, um sodann die Ambivalenz der ‚Ästhetik des Wilden‘ in der Kritik der Urteilskraft (1790) herauszuarbeiten: Einerseits sei der ‚Wilde‘ nach Kant zwar unfähig zum interesselosen Wohlgefallen am Schönen und erscheine insofern mehr als Tier denn als Mensch, andererseits aber sollen seine ‚primitiven‘ ästhetischen Praktiken den „Anfang der Zivilisierung“ bilden. Im Weiteren zeigte Kaufmann, wie Schiller in seinen Ästhetischen Briefen (1795) auch in dieser Hinsicht kritisch an Kant anknüpft, indem er dessen argumentationslogische Inkonsequenzen zu vermeiden sucht: Vor dem Hintergrund einer anthropologischen Rehabilitierung der Sinnlichkeit konzipiere Schiller ein dreistufiges Entwicklungsmodell vom physischen über den ästhetischen zum moralischen Zustand, wonach bereits die ‚primitiven‘ Menschen prinzipiell zur ästhetischen Erfahrung fähig sind. So sei der Körperschmuck ‚exotischer‘ Völker für Schiller, anders als für Kant, kein Ausdruck eines bloß physischen Interesses, sondern eine Manifestation des – den ‚ganzen Menschen‘ auszeichnenden – interesselosen Spieltriebs. Damit zeichne sich bei Schiller eine merkliche ästhetisch-anthropologische Aufwertung des ‚Wilden‘ ab.

Carsten Zelle (Bochum) beschäftigte sich in seinem Vortrag mit „Krügers ethnologischen Träumen“. Die erstmals 1754 erschienenen Träume des Mediziners und Philosophen Krüger lassen sich nach Zelle als religionsvergleichende und ethnographische Reflexionen lesen, die eine kulturrelativistische Tendenz aufweisen. Den geschilderten Träumen unterliegt dabei laut Zelle die Vorstellung einer deistischen Urreligion, von der sich die einzelnen Religionen nach und nach entfernt hätten. Überdies begreife Krüger die Eigenlogik der Träume als Anzeichen psychischer und somatischer Vorgänge; die einzelnen Traumphasen seien als Phasen der kulturanthropologischen Reflexion interpretierbar. Krügers Träume greifen zudem das ‚Wissen‘ früherer völkerkundlich-anthropologischer Abhandlungen auf, was Zelle vor allem im Hinblick auf intertextuelle Bezüge zum Werk des jesuitischen Missionars und Ethnographen Lafitau demonstrierte. Dabei popularisiere Krüger dieses anthropologische ‚Wissen‘ und benutze es überdies in vergleichender Perspektive zur satirischen Relativierung der eigenen, europäischen Kultur.

Sebastian Treyz (Basel) ging in seinen Ausführungen unter dem Titel „‚Die ganze Menschheit ist mehr werth als der beste aller Menschen‘. Der Stachel des Fremden im Lustspieldiskurs der Aufklärung“ auf die Sympathie-Antipathie-Lenkung in deutschsprachigen Komödien des 18. Jahrhunderts ein. Insbesondere hob er dabei die affektsteuernde Wirkung von stereotypen Alteritätsmustern hervor. Anhand von Texten wie Louise Gottscheds Die Hausfranzösin (1749) konzentrierte sich Treyz vor allem auf die Evokation gallophober Affekte im Theater. Durch das kollektive Verlachen der Franzosen bzw. der deutschen ‚Französlinge‘ befördere das Bühnengeschehen die Entstehung einer emotional vermittelten Nationalidentität der Zuschauer und führe gleichzeitig zur normativen Abwertung des kulturell Anderen. Der Spott diene hierbei in einer doppelten Funktion sowohl moraldidaktischen Zwecken als auch der Verhöhnung der (Anbiederung an die) Franzosen – in frappierendem Gegensatz zur zeitgenössischen Tragödienpoetik, die sich gerade an französischen Vorbildern orientierte.

In ihrem Vortrag „Mexikanische Geschichten und ägyptische Palmblätter-Konfessionen. Wielands Beyträge zur Geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens als Umrissskizze einer frühen ethnologischen Allegorie“ thematisierte Michaela Holdenried (Freiburg) die vielschichtige Anthropologie Wielands und rekonstruierte dabei seine Auseinandersetzung mit Rousseau, durch die er zu einer originellen, teilweise kritischen Interpretation von dessen Werk gelangt sei. So plädiere Wieland für ein geschichtsphilosophisches Entwicklungsmodell, das partikulare Rückschritte und ungleichzeitige Entwicklungen einschließe: Von daher urteile er weniger kategorisch über die ‚Primitiven‘ als Rousseau mit seinem Konzept des bon sauvage. Holdenried vertrat überdies die These, dass es Wieland bereits 1770 um einen konstruktiven Beitrag zur Pathogenese der Moderne ging. Einen wesentlichen Faktor bei der späteren Veränderung der Anordnung der Beyträge stelle die Figur des Priesters Abulfauaris dar, die gewisse Parallelen zu Rousseau erkennen lasse. Die eigentliche Absicht Wielands besteht hier, so Holdenried, im psychologischen Freilegen der Beweggründe seines ‚Helden‘ – dieser erscheine sich zusehends selbst als ‚Fremder‘.

In ihrem Beitrag „‚Geographie der dichtenden Seele‘. Herders Volkslieder-Projekt“ entwickelte Jutta Heinz (Jena) die These, dass Herders lebenslangem Projekt der Sammlung und Veröffentlichung von Volksliedern eine naturalistische Ästhetik zugrunde liegt. Als Vorläufer nannte sie vor allem Thomas Percy und James Macpherson mit seinen Ossian-Werken. Herders eigene Publikation Volkslieder (1778/79) verdeutliche, dass es ihm um das gesamte Spektrum der europäischen Tradition gehe; dabei unterstreiche er mit organischen Metaphern („Volksstamm“, „Spross“) immer wieder, dass das Volkslied für ihn die „unverfälschte Äußerung der Volksseele“ sei. Herder lehnt also nach Heinz eine nur äußerliche ethnologische Beschreibung zugunsten des Bemühens um eine Innensicht ab: Die Völker sollen sich selbst im Spiegel ihrer Poesie zeigen. Es sei jedoch erkennbar, dass Herder in seinen Übersetzungen die inhaltlichen Eigenheiten der Texte tendenziell nivelliere, um völkerübergreifende, allgemein-menschliche Themen hervorzuheben – somit relativiere er seine naturalistische Theorie des Volkslieds, indem er die Texte ‚glätte‘ und auf motivische Kontinuität statt Differenz abzielt. Unterschiede bestünden für Herder dagegen vor allem in formaler Hinsicht: Musikalische Strukturen und ‚Natürlichkeit‘ der Sprache seien für Herder die wichtigsten Kriterien im Vergleich der einzelnen Volkslieder.

Alexander Honold (Basel) ging in seinem Vortrag mit dem Titel „Amplituden-Konkordanz. Zur Poetik geographisch-klimatischer Extreme bei Hölderlin“ auf das Wechselspiel der Aufklärungsanthropologie mit den Disziplinen Astronomie, Geographie und Klimatologie ein und betrachtete vor diesem Hintergrund die implizite Poetik von Hölderlins Elegie Der Wanderer (1797). Dabei stellte Honold heraus, dass sich die Wirkmächtigkeit des helio-kinetischen Weltbildes noch in Hölderlins Gedicht zeige: Das lyrische Ich bewege sich auf einer Senkrechten zwischen den Erdpolen, so dass es mit klimatischen Extremen in Berührung komme. Aus den Sphären dieser (als göttlich apostrophierten) Extreme kehre der Wanderer schließlich zu einem dem Menschen gemäßen Mittelmaß zurück: Das Ende der Elegie (re)konstituiere dieses Mittelmaß entlang der europäischen bzw. deutschen Breitengrade; der Weinbau fungiere dabei als Sinnbild für die Harmonie zwischen Sonne, Erde und Mensch. Die zeitgenössischen Debatten um die Neigung der Erdachse zeigen laut Honold, dass um 1800 eine Verbindung zwischen Klimatologie und Anthropologie angenommen wurde, die heute in der Diskussion um die Verschiedenheit der europäischen Nationen in veränderter Form wieder eine Rolle spiele.

Stefan Hermes (Freiburg) diskutierte in seinem Vortrag „‚Der Deutsche wird […] immer Deutscher bleiben und der Franzose Franzos.‘ Das anthropologische ‚Wissen‘ von den europäischen ‚Nationalcharakteren‘ bei J.M.R. Lenz“ die Frage, auf welche Weise Lenz am Diskurs um die Unterschiede zwischen den europäischen Nationen partizipierte. Dabei wies er darauf hin, dass dessen theoretische Schriften – ungeachtet der sie durchziehenden Widersprüche – die Nation eher als Abstammungs- denn als Sprachgemeinschaft entwerfen. Ausgehend von Lenz’ Konzept des ,Volksgeschmacks‘ zeigte Hermes zudem, dass jener die Funktion der Literatur unter anderem darin sah, den deutschen ,Nationalcharakter‘ zu festigen. Inwiefern derartige Überzeugungen auch Lenz’ eigenes Dramenschaffen prägen, beleuchtete er anhand der 1775 entstandenen Farce Pandämonium Germanikum: Den Figuren angeblich minderer Schriftsteller wie Weiße und Wieland werde darin ihre ‚Französisierung‘ vorgehalten – ein Prozess, der sich im Rekurs auf Homi Bhabhas Mimikry-Begriff beschreiben lasse. Denn die von Lenz karikierte Orientierung deutscher Autoren an französischen Vorbildern führe zu einer Auflösung vermeintlich klarer Grenzen zwischen den Nationen, so dass das Drama einen (unfreiwilligen) Anti-Essentialismus impliziere. Schon sein Titel verdeutliche das insofern, als es sich bei diesem ja um eine polyglotte Hybridbildung handele.

Ralph Häfner (Freiburg) rekonstruierte in seinem Vortrag „Thaumaturgie und Kinetik. Zur Diskussion um den orientalischen Despotismus im thematischen Umkreis von Schillers Romanfragment Der Geisterseher“ die intertextuellen Bezüge zwischen Schillers Text und zahlreichen bislang kaum beachteten, insbesondere französischen Quellen. Dabei arbeitete er die Relevanz einer platonischen Anthropologie für den Geisterseher (1787/89) heraus, an dem überdies das im 18. Jahrhundert weit verbreitete Interesse an der ‚uralten Weisheit‘ fremder Kulturen abzulesen sei. So habe man sich intensiv mit der mythischen Frühgeschichte Armeniens, der Kabbala, ägyptischer Hermetik und heidnisch-abergläubischen Ritualen beschäftigt; für Schiller sei speziell Jean Terrassons Werk Sethos, histoire ou vie, tirée des monuments, anecdotes de l’ancienne Égypte (1731) von erheblicher Bedeutung gewesen. Überdies gelangte Häfner zu dem Befund, dass der Geisterseher fortwährend zwischen Mystizismus und Skeptizismus oszilliere, so dass Herders Überzeugung von der Unmöglichkeit einer zweifelsfreien Welterkenntnis darin gleichsam Bestätigung finde. Dementsprechend müsse auch unklar bleiben, mit welchem Ende Schiller den Roman letztlich versehen hätte.

Unter dem Titel „Der morgenländische Weise im Lehrgedicht. J.W.L. Gleims Halladat oder Das rothe Buch und seine zeitgenössische Rezeption“ ging Olav Krämer (Freiburg) der Frage nach, was mit völkerkundlich-anthropologischem ‚Wissen‘ geschieht, wenn es in literarische Texte transferiert wird. So habe sich Gleim bei der Abfassung von Halladat nicht zuletzt an der wegweisenden, ein durchaus positives Bild des Islam vermittelnden Koranübersetzung Boysens orientiert und einzelne Gedichte als Suren bezeichnet. Im Grunde aber habe er sich lediglich um ein morgenländisches Dekor bemüht; auf eine konkrete Darstellung des muslimischen Glaubens sei es ihm gerade nicht angekommen: Stattdessen werde dieser, so Krämers These, nur als eine mögliche Ausprägung der ,natürlichen Religion‘ präsentiert. Mithin kleide sich Gleims didaktisierender Text in ein islamisches Gewand, um vermeintlich religionsübergreifende ,Wahrheiten‘ zu verbreiten: Die Aufwertung einer fremden Religion und Kultur im Sinne eines anthropologischen Universalismus werde daher mit der Ausblendung kulturspezifischer Phänomene erkauft.

Zu Beginn seines Vortrags „Tugendlehre und Anthropologie: China-Gedichte um 1800“ skizzierte Christopher Meid (Freiburg) die von einer regelrechten Konfuzius-Mode bestimmte China-Wahrnehmung der europäischen Aufklärer. So habe der Konfuzianismus vorrangig als Exempel für eine genuine Vernunftreligion gegolten und eine entsprechende Wertschätzung erfahren; indes manifestiere sich etwa in Goethes Gedicht Der Chinese in Rom (1797) ein keineswegs mehr rein affirmatives China-Bild. Anschließend widmete sich Meid jenen Nachdichtungen chinesischer Lyrik, die der elsässische Schriftsteller und Pädagoge Gottlieb Konrad Pfeffel im ausgehenden 18. Jahrhundert verfasste. Dabei konnte Meid belegen, dass Pfeffels Texte bestimmte Tugenden, die man den Chinesen traditionell zuschrieb, teilweise problematisieren: Dies betreffe zum Beispiel die bedingungslose Elternliebe, die im Zentrum des Gedichts Kiefuen (1779) steht. Während nämlich die chinesische Vorlage in konfuzianische Harmonie münde, werde in Pfeffels Version ein psychisches Dilemma des sich für den Vater opfern wollenden Sohns vorgeführt. Insgesamt jedoch, so Meid, betone Pfeffel die Kompatibilität von chinesischer und europäischer Moral, was ihn als Verfechter einer universalistischen Anthropologie ausweise.

Unter der Überschrift „Kultureller Synkretismus. Anthropologie und Ästhetik in den Sizilien-Dramen Voltaires, Goethes und Schillers“ rekapitulierte Robert Krause (Freiburg) zunächst die im Essai sur les moeurs et l‘esprit des nations (1756) zum Ausdruck kommenden Grundpositionen von Voltaires völkerkundlicher Anthropologie. Sodann legte er dar, inwiefern kulturelle Hybridität in dessen Ritterdrama Tancrède (1760) zugunsten eines anthropologischen Essentialismus abgewertet wird; die Kontrastfolie bildeten dabei einige Kerngedanken des postkolonialen Theoretikers Edward Said. Darüber hinaus zeigte Krauses komparatistischer Vortrag gewisse Unterschiede, aber auch verbindende Elemente zwischen Voltaires Tragödie und Goethes freier Übertragung Tancred aus dem Jahr 1801 auf. So werde in beiden Texten – und ebenso in Schillers ,Trauerspiel mit Chören‘ Die Braut von Messina (1803) – ein Synkretismus zwischen Orient und Okzident gestaltet, der Identitätskonzepte, die auf kulturelle Homogenität abzielen, als äußerst fragwürdig markiert. Derartige synkretistische Konstellationen seien von der Literaturwissenschaft bisher nicht hinlänglich beachtet worden, so dass sich hier eine wichtige neue Forschungsperspektive eröffne.

In seinem Vortrag „‚Dummes Volk‘ – ‚weiße Tiger‘. Menschheitskonflikte in August Klingemanns Columbus“ erläuterte Alexander Košenina (Hannover) eingangs die Verfahren, mittels derer der Titelheld des 1808 publizierten Geschichtsdramas zum Inbegriff des heroischen und moralisch integren Entdeckers stilisiert wird: In diesem Zusammenhang rekurriere Klingemann sowohl auf Schillers Konzept des ,heldenhaften Menschen‘ als auch auf Humboldts Ideal eines ,Entdeckens durch Nachdenken‘. Besonders hervorzuheben sei jedoch die für das Drama charakteristische Technik des Perspektivwechsels: Zwar erscheinen die Europäer den amerikanischen ,Eingeborenen‘ zunächst als ehrfurchtgebietende Götter, doch werden sie sukzessive als bloße Menschen, ja als Sklaven des Goldes erkennbar und schließlich als ,weiße Tiger‘ bestialisiert. Zugleich verdeutliche Klingemanns Stück, dass die von den Europäern als ,dummes Volk‘ denunzierten Indianer keineswegs als Angehörige einer ,inferioren Rasse‘ aufzufassen sind. Denn die Identifikationsfigur Columbus setze sich, so Košenina, über derartige Zuschreibungen souverän hinweg und trete beherzt für die Subalternen ein, so dass auch nicht der vermeintliche Hochverrat des Protagonisten an der spanischen Krone im Zentrum des Dramas stehe: Dort sei vielmehr der Hochverrat der Kolonisatoren an der ganzen Menschheit anzusiedeln.

Die Darlegungen von Maximilian Bergengruen (Genf) waren mit „Der Ursprung aller Kraft. Zur Zigeunerin in E.T.A. Hoffmanns Das öde Haus – mit einem magnetischen Seitenblick auf den Sandmann“ überschrieben. Laut Bergengruen verkörperte der Typus der hexenartigen ,Zigeunerin‘ (nicht nur) in der Romantik die Ambivalenz des Fremden als tremendum et fascinosum. Demgemäß werde auch der ,Zigeunerin‘ in Hoffmanns Das öde Haus (1817) eine besonders ausgeprägte Naturverbundenheit attestiert, die sie zugleich als Angehörige einer ,niederen Kulturstufe‘ kennzeichne. Überdies gehe von ihr jener Magnetismus aus, der die übrigen Figuren nach und nach in eine Liebesekstase geraten lasse und buchstäblich in den Wahnsinn treibe. In diesem Kontext sei – neben den Konzepten der Teufelsbesessenheit und des Dämonischen – die Metapher der ,Verspielzeugung‘ des Menschen von immenser Relevanz. Indes unterstrich Bergengruen, dass die Figur der ,Zigeunerin‘ nicht vollkommen negativ gezeichnet sei. Denn auch Hoffmanns höchst unzuverlässige Erzähler verfügen gleichsam über die Macht von ,Puppenspielern‘, wie Bergengruen mit Blick auf den Sandmann demonstrierte, so dass sich das ,zigeunerische Prinzip‘ letzten Endes als poetologisches Prinzip erweise und mithin eine signifikante Aufwertung erfahre.

In seinem Vortrag „Vom Körper zur Sprache der Völkerstämme. Humboldts anthropologische Rede über ‚Anmut und Klarheit‘“ vertrat Kai-Uwe Reinhold (Dresden) die These, dass Alexander von Humboldt in seinen anthropologischen Schriften den Versuch unternimmt, Wissenschaft, Ästhetik und Moral harmonisch zusammenzuführen. Im Zuge dieser Synthese verwerfe er gängige Rassentheorien seiner Zeit und entwickle die Vorstellung eines menschlichen Urtypus, wobei er sich an der Ästhetik Schillers orientiere: Die ästhetische Dimension des Menschen soll nach Humboldt zur naturwissenschaftlichen Klassifikation beitragen; wie Schiller strebe er nach der Versöhnung von Ästhetik und Moral. Auch sein Interesse an den sprachhistorischen Forschungen seines Bruders Wilhelm sei in diesem Kontext zu verstehen, habe Humboldt doch angenommen, dass die Sprachentwicklung eines Volkes Auskunft über dessen Kulturstand gebe. Insgesamt lässt sich Reinhold zufolge festhalten, dass in Humboldts Werk die – universalistische – Idee des menschlichen Urtypus mit einem – relativistischen – Modell gradueller Kulturunterschiede konkurriert.

Die Verbindungen zwischen völkerkundlicher Anthropologie, fiktionaler Literatur und ästhetischer Theorie um 1800 wurden durch die vielfältigen Beiträge der Konferenz umfassend thematisiert; Erweiterungen erfuhren die von den ReferentInnen eröffneten Problemhorizonte im Rahmen der anregenden Diskussionen, die sich jeweils an die Vorträge anschlossen. Die beeindruckende Bandbreite der Tagung ergab sich nicht zuletzt aus dem weitgesteckten Untersuchungsbereich, der historisch von der Aufklärung bis zur Romantik reichte und höchst unterschiedliche Gattungen und Textsorten umfasste. Dazu zählten epische, lyrische und dramatische Werke ebenso wie ästhetische und völkerkundlich-anthropologische Schriften, wobei der Fokus auf dem deutschsprachigen Raum lag, jedoch durch komparatistische Fragestellungen immer wieder erweitert wurde. Insofern zeigte sich, wie produktiv eine Verbindung der Forschungsperspektive Literarische Anthropologie mit neueren kulturwissenschaftlichen Ansätzen sein kann.

 

 

Programm:


Donnerstag, 22. November 2012

14.00 Begrüßung durch Werner Frick (FRIAS) und Einführung durch die Organisatoren

14.45 WOLFGANG RIEDEL (Würzburg)

  • Von Menschen und Tieren. Herkunft und Perspektiven des Forschungsparadigmas Literarische Anthropologie

15.30 PAUSE

16.00 SEBASTIAN KAUFMANN (Freiburg)

  • Die ,Ästhetik des Wilden‘ in Kants Kritik der Urteilskraft und Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen

16.45 CARSTEN ZELLE (Bochum)

  • Krügers ethnologische Träume

17.30 PAUSE

18.00 SEBASTIAN TREYZ (Basel)

  • „Die ganze Menschheit ist mehr werth als der beste aller Menschen.“ Der Stachel des Fremden im Lustspieldiskurs der Aufklärung

18.45 MICHAELA HOLDENRIED (Freiburg)

  • Mexikanische Geschichten und ägyptische Palmblätter-Konfessionen. Wielands Beyträge zur Geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens als Umrissskizze einer frühen ethnologischen Allegorie

20.30 Conference Dinner

Freitag, 23. November 2012

10.00 JUTTA HEINZ (Jena)

  • „Geographie der dichtenden Seele“. Herders Volkslieder-Projekt

10.45 ALEXANDER HONOLD (Basel)

  • Amplituden-Konkordanz. Zur Poetik geographisch-klimatischer Extreme bei Herder, Heinse, Hölderlin

11.30 PAUSE

12.00 STEFAN HERMES (Freiburg)

  • „Der Deutsche wird […] immer Deutscher bleiben, und der Franzose Franzos.“ Das anthropologische ,Wissen‘ von den europäischen ,Nationalcharakteren‘ bei J. M. R. Lenz

12.45 MITTAGESSEN

14.00 RALPH HÄFNER (Freiburg)

  • Die Diskussion um den orientalischen Despotismus im Kontext der Spätaufklärung

14.45 OLAV KRÄMER (Freiburg)

  • Der morgenländische Weise im Lehrgedicht. J. W. L. Gleims Halladat oder Das rothe Buch und seine zeitgenössische Rezeption

15.30 PAUSE

16.00 CHRISTOPHER MEID (Freiburg)

  • Anthropologie und Politik in China-Gedichten des späten 18. Jahrhunderts

16.45 ROBERT KRAUSE (Freiburg)

  • Kultureller Synkretismus. Anthropologie und Ästhetik in den Sizilien-Dramen Voltaires, Goethes und Schillers

17.30 PAUSE

18.00 ABENDESSEN

20.15 Lesung von FELICITAS HOPPE im FRIAS-Hörsaal

 

Samstag, 24. November 2012

10.00 ALEXANDER KOŠENINA (Hannover)

  • „Dummes Volk“ – „weiße Tiger“. Menschheitskonflikte in August Klingemanns Columbus

10.45 DIETER HEIMBÖCKEL (Luxemburg)

  • Von Locarno bis St. Jago oder: alles relativ? Heinrich von Kleists Neuigkeiten aus der Provinz

11.30 PAUSE

12.00 MAXIMILIAN BERGENGRUEN (Genf)

  • Die magnetische Kraft der Natur. Die Zigeunerin in E. T. A. Hoffmanns Das öde Haus

12.45 KAI-UWE REINHOLD (Dresden)

  • Vom Körper zur Sprache der Völkerstämme. Humboldts anthropologische Rede über „Anmuth und Klarheit“