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Listen in lebensgeschichtlichem Schreiben: Workshop des ERC Starting Grant Projekts LISTLIT

Life Writing und die Poetik des Auflistens

Gastbeitrag von Anne Rüggemeier

 

Seit Sommer 2018 untersucht die Forschungsgruppe LISTLIT „Listen in Literatur und Kultur“, geleitet von Juniorprofessorin Eva von Contzen, das kulturelle und das literarische Phänomen der Liste und die Erscheinungsformen sowie die Bedeutung des Listenerstellens in narrativen Texten. Gefördert wird das Projekt durch einen ERC Starting Grant, den Eva von Contzen 2016 erfolgreich eingeworben hat. Der Arbeitsort des  fünfköpfigen Teams, z.Zt. bestehend aus zwei Postdocs (Dr. Anne Rüggemeier und Roman Alexander Barton) und zwei Doktorandinnen (Sarah Link und Julia Böckling), ist das FRIAS.

Am 18. Januar 2019 organisierte die Gruppe einen Workshop, um den Formen und Funktionen der Liste in auto/biografischen Texten auf den Grund zu gehen. Unter dem Titel „Listen in lebensgeschichtlichem Schreiben: Life Writing und die Poetik des Auflistens“ diskutierten Masterstudierende, Nachwuchswissenschaftler/innen und etablierte Forschende anhand von Texten aus vier Jahrhunderten über die Funktion der Liste als literarisches Gestaltungsmittel, als kulturelles Werkzeug und als Instrument der auto/biografischen Sinnstiftung.

Den Keynote Vortrag mit dem Titel „Erledigt!“ hielt Judith Kasper, Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. An ausgewählten Beispielen der französischen Nachkriegsliteratur zeigte sie, inwieweit der Liste als literarischem Mittel die Erinnerung an den nationalsozialistischen Verwaltungsapparat und die Administration der Vernichtung, wie sie in den Transportlisten der Gestapo vorliegt, eingeschrieben ist. Ausgehend von Serge Klarsfelds Mémorial de la Déportation des Juifs de France (1978), einer 650-seitigen Sammlung von Namen und Daten von 80.000 jüdischen Opfern der deutschen Besatzung in Frankreich, zeigte Kasper überzeugend, wie die Präsenz der Liste etwa in Werken von George Perec nicht nur als formale Spielerei (contraint) eingeordnet werden kann. Die Liste stellt zugleich eine zwanghafte Auseinandersetzung mit der Vernichtung und eine obsessive Hinwendung zum eigenen Scheiben trotz und entgegen einer Geschichte des Auslöschens dar. Den Einfluss von sowohl den administrativen Listen, die dem Völkermord zugrunde lagen, als auch den bewahrenden und sammelnden Listen von Klarsfelds Mémorial zeichnete Kasper auch in Werken von Sarah Kofman und in Patrick Modianos Dora Bruder (1997) nach.

Die anschließenden Präsentationen reichten von frühneuzeitlichen Tagebüchern bis hin zu Auflistungsstrategien in YouTube-Narrativen. In den Materialdiskussionen wurde das Auflisten als eine Praxis sichtbar, die lebensgeschichtliche Rhythmen und Routinen dokumentiert und zum Teil auch implementiert – nicht zuletzt als Moment der Kontrolle oder als Mittel gezielter Akte der Selbstinszenierung. Darüber hinaus wurde die Liste als ein literarisches Mittel sichtbar, das den unendlichen Strom an täglichen Erfahrungen und Eindrücken nicht nur zusammenfasst, sondern auch reduziert und kondensiert. Als (zum Teil auch manipulative) Form fordert die Liste ihre Leserinnen und Leser zur aktiven Partizipation an Akten der narrativen, identitätsstiftenden und mnemonischen Bedeutungsstiftung auf.

Am Ende des Workshops – der mit einer Liste von Fragen begann, die rege aufgegriffen und diskutiert wurden – steht eine neue Liste von Fragen, die Denkanstöße für die weitere Forschungsarbeit geben:

  • Welche Position nehmen Listen in Bezug auf das Verhältnis von narrativen und episodischen autobiografischen Sinnstiftungsprozessen ein?
  • Wie stellen Listen unseren Textbegriff infrage? Warum werden bestimmte Listen von Lesenden übersprungen, während andere zur anhaltenden Lektüre auffordern?
  • Weshalb kann die scheinbar nüchterne Form der Liste zugleich starke Affekte hervorrufen?
  • Listen repräsentieren nicht nur, sie machen zugleich etwas mit der Leserin: Wie lässt sich das auto/biografischen Listen innewohnende Potenzial von einerseits mimetischer und andererseits performativer Funktion genauer fassen?

 

Die LISTLIT-Gruppe plant, die Ergebnisse des Workshops zu veröffentlichen und wird den bisher sehr produktiven wissenschaftlichen Austausch mit alten und neuen Experten auf diesem Gebiet fortsetzen. Weitere Informationen zum Forschungsprojekt LISTLIT finden Sie auf der Website. Wenn wir Ihre Neugierde an Listen wecken konnten, besuchen Sie auch den Listology Blog.

 

12/02/2019