Artikelaktionen

Sie sind hier: FRIAS News Mitteilungen Aktuell Geschichte anders denken: …

Geschichte anders denken: Rückblick auf die Eröffnung des Balzan FRIAS-Project in Global History

Am 13. Februar 2020 wurde das Balzan FRIAS-Project in Global History unter der Leitung von Professor Jürgen Osterhammel und Professor Stefanie Gänger feierlich eröffnet. Bei der Auftaktveranstaltung stellte Osterhammel zusammen mit seinen Ko-Herausgebern Professor Christof Dejung (Bern) und Professor David Motadel (London) den Ende 2019 erschienenen Sammelband "The Global Bourgeoisie: The Rise of the Middle Classes in the Age of Empire" vor und diskutierten über die Vereinbarkeit von Global- und Sozialgeschichte.

Was Globalgeschichte sein will, ist keineswegs schnell erklärt. Auf dem Minisymposium, mit dem das Balzan FRIAS-Project in Global History am 13. Februar 2020  eröffnet wurde, begann Professor Jürgen Osterhammel seinen Definitionsversuch zunächst ex negativo: Globalgeschichte ziele nach Osterhammel, der als Distinguished Fellow das am FRIAS angesiedelte Projekt leitet, nicht darauf, eine universale Geschichte der Welt zu schreiben. Auch gehe es nicht darum, verschiedene longue durées nachzuzeichnen, wie es die Annales-Schule im 20. Jahrhundert tat. Für Osterhammel ist Globalgeschichte vielmehr „eine Geschichtsschreibung, die Auswirkungen globaler Art in den Blick nimmt, die von der Peripherie her gedacht werden muss und die kosmopolitischen Denkweisen nahe steht. Vor allen Dingen aber ist sie eine Perspektive, ein Laboratorium, in dem vertraute Themen unter dem Aspekt des Globalen neu betrachtet werden.“

Mit diesem inter- und transdisziplinären Blick fügt sich Osterhammels Balzan-Projekt zur Globalgeschichte wunderbar in das Forschungsprofil des FRIAS ein, wie FRIAS-Direktor Bernd Kortmann zu Beginn des Minisymposiums betonte: „Gerade in der nächsten Zeit werden globale Aspekte am FRIAS immer wichtiger. Davon zeugt etwa unser Forschungsschwerpunkt ‚Environmental Forecasting‘, der sich mit dem für die ganze Weltgemeinschaft relevanten Thema Klimawandel beschäftigt und der im nächsten Jahr vom Focus ‚Environmental Humanities‘ fortgeführt wird. Aber auch Kooperationen mit internationalen Partnern wie dem Konsortium zur Menschenrechtsforschung oder die Zusammenarbeit mit unserem ‚Tochterinstitut‘ MIASA in Accra, Ghana, zeigen einmal mehr, wie wichtig eine globale Perspektive ist. Wir sind stolz, dass das Balzan-FRIAS-Projekt dieses Spektrum nun ergänzt.“

Globalgeschichte und Sozialgeschichte – ein Widerspruch?

Balzan Inauguration 3Einen Versuch, ein in den Geschichtswissenschaften wichtiges Thema aus der Perspektive des Globalen neu zu betrachten, stellt der Ende 2019 bei Princeton University Press erschienene Sammelband The Global Bourgeoisie: The Rise of the Middle Classes in the Age of Empire dar. Zusammen mit den Historikern Christof Dejung, Professor an der Universität Bern, David Motadel, Professor an der London School of Economics and Political Science, sowie dreizehn Autorinnen und Autoren der einzelnen Kapitel testete Osterhammel, inwieweit sich sozialhistorische Ansätze auch global verfolgen lassen. Als Untersuchungsobjekt hatten die drei Herausgeber ein in allen Gesellschaften und Kulturen beheimatetes Phänomen gewählt: diejenige Schicht, die in der marxistischen Theorie als „Bourgeoisie“ firmiert, in Deutschland Bürgertum genannt wird, und weltweit in vielen Spachen als  "Mittelschicht" oder "the middle classes" bekannt ist.

Welche Herausforderungen es mit sich bringt, Sozialgeschichte und Globalgeschichte zusammenzubringen, beleuchtete Christof Dejung in seinem Vortrag. Anders als der Titel des Minisymposiums provokant fragte, sehe er zwar keinen unvereinbaren „Widerspruch“ zwischen beiden Herangehensweisen, es ergebe sich jedoch sehr wohl ein Spannungsfeld. Denn der Versuch, scheinbar universale Kategorien der Sozialgeschichte wie Schicht oder Klasse auf andere Kulturen zu übertragen, berge durchaus Risiken. „Man sollte sich grundsätzlich fragen“, so Dejung, „inwieweit die Begrifflichkeiten überhaupt universal gebräuchlich sind. Die Forschung operiert gerne mit einer einheitlichen Terminologie. Wenn die nicht hinterfragt wird, ergibt sich aber schnell ein verzerrtes Bild.“

Welchen Mehrwert es haben kann, wenn Forscherinnen und Forscher Sozial- und Globalgeschichte zusammendenken, illustrierte Dejung am Beispiel der Textilindustrie. Sie brachte ein Beziehungsgeflecht mit sich, dessen Wirkungen überall auf der Welt in ähnlicher Weise zu spüren waren: „In Manchester und Mailand schossen die großen Fabriken aus dem Boden, die Rohstoffe dafür kamen aus den Kolonien. Die kapitalistischen Strukturen, die sich daraus ergaben, waren überall die gleichen: die Arbeitskraft auf der einen, das Kapital auf der anderen Seite.“ Auch andere globale Verflechtungsprozesse boten, so der Berner Historiker, ihm und seinen Herausgeberkollegen immer schon ein ergiebiges Forschungsfeld. Er selbst etwa untersuchte das internationale Netzwerk, das sich Schweizer Kaufleute im 19. und 20. Jahrhundert aufbauten; David Motadel beschäftigte sich mit den Europabesuchen der persischen Schahs. „Nur lokal zu denken, greift dabei zu kurz.“

David Motadel erläuterte, wie die Herausgeber von „The Global Bourgeoisie“ das komplexe Experiment „Globalgeschichte“ angegangen waren. Während viele der Beiträge bereits eine komparatistische Perspektive wählten und Einzelaspekte in ihrer globalen Verflechtung untersuchten, versammelt der Band auch Fallstudien, die einzelne Staaten oder Regionen betrachten. Die Stoßrichtung gaben die Herausgeber durch Themenblöcke wie „State and Class“, „Capitalism and Class“ oder „Religion and the Betterment of the World“ vor, durch die eine Perspektive des Vergleichs eröffnet wird. Eine ausführliche Einleitung und eine Nachbetrachtung des bekannten Londoner Historiker Richard Drayton versuchen, die Einzelergebnisse zu synthetisieren.

Chancen und Risiken einer globalen Geschichtsschreibung

In der anschließenden Podiumsdiskussion wurde der Band selbst zum Untersuchungsgegenstand. Gemeinsam mit dem Islamwissenschaftler und FRIAS Fellow Dr. Simon Wolfgang Fuchs und Stefanie Gänger, Professorin für Neuere Geschichte an der Uni Heidelberg und Co-Leiterin des Balzan FRIAS-Projekts, erörterten die Herausgeber die Fallstricke, aber auch Chancen einer globalen Geschichtsschreibung.

Gänger begrüßte die Methode, nach Themenkomplexen vorzugehen und diese durch Einzelstudien über verschiedene Kulturkreise hinweg zu einem Gesamteindruck zu verbinden. Eine grundsätzliche Schwierigkeit sah sie jedoch darin, dass derartige Schlaglichter fragmentarisch bleiben und Gemeinsamkeiten überbetonen. Wie ähnlich sich die Mittelschichten weltweit werden konnten, demonstrierten die Herausgeber dem Publikum eindrücklich:  Die richtige Antwort auf die Frage, wo das Foto auf dem Cover des Sammelbandes aufgenommen wurde, kannte niemand.  Nicht etwa Brighton oder ein Ostseebad, wie vielfach gemutmaßt wurde, bietet hier die Kulisse, sondern ein Hotel in Montevideo: Anhand der Kleidung und der Architektur ist keine eindeutige Zuordnung möglich.

Auch Simon Wolfgang Fuchs benannte solche Ähnlichkeiten auf der Oberfläche als Gefahrenquelle, die den Blick auf das jeweils Spezifische verstellen können. Gerade die Annahme, dass eine kosmopolitische Denk- und Lebensweise und ein erschütterbarer Glaube an Fortschritt und Bildung bestimmende Merkmale der Mittelschicht sei, erweise sich zuweilen auch als Trugschluss. Als Gegenbeispiel führte Fuchs das Osmanische Reich an: „Hier war es eben nicht die Mittelschicht, sondern es waren die Minderheiten, die als brokers fungierten, global vernetzt und am besten ausgebildet waren.“

Trotz aller Risiken ist das Experiment „Globalgeschichte“ lohnenswert. Welche Relevanz etwa das Projekt hat, liegt auf der Hand: Tendenzen zum Populismus, Misstrauen gegenüber der politischen Elite und die zunehmende Existenzangst der Mittelschichten lassen sich in verschiedener Ausprägung überall beobachten, und auch auf gemeinsame Ursachen wie neue Kommunikationsmedien und eine neue soziale Ungleichheit zurückführen. Solchen globalen Verbindungen nachzuspüren, ist zwangsläufig ein Experiment, aber es macht, wie David Motadel bestätigt, „auch ziemlich großen Spaß“.

Fotos: Max Brandl
Text: Verena Spohn