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Interview: Die Macht sozialer Umgangsformen

Online-Konferenz stellt die „Familienaufstellung“ der deutschen Wissenschaft in den Fokus

Interview Alma Mater, Doktorvater

Am 12. und 13. April 2021 findet die Online-Tagung „Alma mater, Doktorvater“ statt, die vom Freiburg Institute of Advanced Studies (FRIAS) in Kooperation mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) Essen veranstaltet wird. Untersucht werden Sozialformen im akademischen Umfeld. Wir sprachen mit den Organisatorinnen JunProf. Dr. Eva von Contzen, Dr. Eva Eßlinger und Prof. Dr. Julika Griem über Umgangsformen und Machtstrukturen an Universitäten.


Die Konferenz „Alma mater, Doktorvater“ betrachtet die Universität selbst als Forschungsgebiet. Wie ist die Idee zu der Tagung entstanden? 

Griem: Wir kannten uns noch gar nicht alle drei, als wir uns im Frühjahr 2019 halbwegs zufällig im Café des Stuttgarter Literaturhauses getroffen haben. Aus einer langen Unterhaltung über unsere jeweiligen Arbeitsumgebungen und Werdegänge ist an diesem Nachmittag, ganz unverhofft, die Idee der „Familienaufstellung“ entstanden.

Von Contzen: In unserem Gespräch ging es auch um die spezifischen Probleme von Wissenschaftlerinnen, die ja weithin bekannt sind. Dies brachte uns auf die Frage nach den systemischen Gründen für Benachteiligung. Die Ironie im Begriff der alma mater, der „nährenden Mutter“, brachte uns auf die Idee, die impliziten Strukturen und Semantiken genauer zu betrachten, die unseren Alltag im akademischen Kontext bedingen.

Eßlinger: Den Charakter einer Institution erkennt man ja nicht an ihrem Organigramm, sondern an ihrer Kultur alltäglicher Kommunikation. Da spielt sich auch ein Großteil der Machtbeziehung ab, die oft wenig mit dem offiziellen Selbstbild der an der Institution Beteiligten zu tun hat.


„Nicht jede:r hat die Lizenz zum Witzemachen.“

 

Einer der Tagungsvorträge ist mit „Witze am Kopierer“ betitelt. Welchen Einfluss haben soziale Umgangsformen im universitären Alltag auf die Machtstrukturen in den Institutionen?

Eßlinger: Wenn wir über die Macht sozialer Umgangsformen sprechen, sollten wir auch darüber reden, wie sie verteilt ist. Oder, um es mit dem Titel des Vortrags zu sagen: Nicht jede:r hat die Lizenz zum Witzemachen. Dasselbe gilt für (selbst-)ironische Bemerkungen. Überhaupt scheint Ironie etwas zu sein, das man sich erst ab einer bestimmten Besoldungsstufe leisten kann.

Griem: Umgangsformen sind nicht nur ein Heilmittel, um Machtstrukturen auszuhalten oder gar zu vergessen. Sie ermöglichen einerseits, und häufig ist uns das nur halb bewusst, die Reproduktion von Macht – weil man etwas weiter so tut, wie man es immer schon getan hat; selbst dann, wenn man sich, z.B. als Postdoc, vorgenommen hatte, alles anders zu machen. Andererseits können klug gehandhabte Umgangsformen Freundlichkeit, Kollegialität und Solidarität im Arbeitsalltag befördern.

 

„das seltsame Wort ‚Doktorvater‘ existiert in anderen Sprachen nicht“


Tagungsposter 2021

Bei „Alma Mater, Doktorvater“ steht die deutsche Wissenschaftslandschaft im Fokus. Ist das Modell der Kleinfamilie in universitären Sozialformen ein rein deutsches Phänomen? 

Griem: Wir gehen von tentativen Hypothesen aus, die gründlich überprüft werden müssen. Manches erscheint uns typisch deutsch – das seltsame Wort „Doktorvater“ – von dem wir noch nicht genau wissen, wo es herkommt – existiert in anderen Sprachen nicht; ebenso wie das infantilisierende Wort „wissenschaftlicher Nachwuchs“. Bei der Tagung werden wir uns nicht nur akademische Kleinfamilien anschauen, sondern auch Patchworkfamilien, Großfamilien und Clans, und damit sowohl bürgerliche als auch feudale Sozialformen in der Wissenschaft. Eine wichtige Rolle werden die Quellenlagen und Empirien spielen, auf deren Grundlage wir überhaupt Aussagen zu unserem Thema treffen können.


„mehr gleichberechtigte Professuren nebeneinander“


Als Forscherinnen sind Sie Teil der internationalen Wissenschaftscommunity und im Austausch mit internationalen Kolleg:innen. Gibt es Regionen, deren Sozialformen und Strukturen im Wissenschaftsbetrieb Sie besonders schätzen?

Eßlinger: An den amerikanischen Ivy League-Universitäten sind die Seminare oftmals sehr klein, was ihnen von vorneherein einen intimeren Charakter verleiht. Das kann den Austausch befördern und dazu beitragen, sich schneller und leichter als Teil einer Community zu fühlen. Gleichzeitig steigert dies Empfindlichkeiten und lokale Rivalitäten. Die engen Betreuungsverhältnisse, oft informell-freundschaftlich, erzeugen ihre eigenen Abhängigkeiten, wie man in jüngster Zeit an prominenten Fällen gesehen hat. 

Von Contzen: Eine Department-Struktur, wie sie beispielweise in Großbritannien praktiziert wird –  und wie die Junge Akademie sie zuletzt für Deutschland vorgeschlagen hat – wäre eine Möglichkeit der Egalisierung von Wissenschaftler:innen: mehr gleichberechtigte Professuren nebeneinander statt einer Hierarchie-Pyramide mit wenigen Lehrstuhlinhaber:innen ganz oben. Allerdings löst auch dies nicht das Problem, dass ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Promovierenden und Betreuer:innen besteht.


„Wir sollten nicht einfach den Jargon und die Organisationsformen von Unternehmen kopieren, sondern unsere Strukturen und Verfahren verbessern“


Während im akademischen Kontext vom „wissenschaftlichen Nachwuchs“ gesprochen wird, werden in großen Unternehmen vielversprechende, junge Talente oft als „High Potentials“ bezeichnet. Ihnen wird damit die Rolle der Zukunftsträger:innen zugeschrieben, welche die Organisationen voranbringen und zukunftssicher aufstellen. Können deutsche Universitäten in diesem Punkt von der freien Wirtschaft lernen?

Griem: Ich finde, wir haben in den letzten zwei Jahrzehnten schon zu viel von der Wirtschaft gelernt. Wir sollten nicht einfach den Jargon und die Organisationsformen von Unternehmen kopieren, sondern unsere Strukturen und Verfahren so verbessern, dass erwachsene Menschen nicht mit vierzig noch Ordinarien zuarbeiten und Sonntagsreden über „High Potentials“ anhören müssen.

Eßlinger: Mir ist diese neue, aus der freien Wirtschaft importierte Sprechweise auch fremd. Mit ihr kommen ein Wettbewerbsdruck und ein Optimierungsgedanke in die akademische Welt, die dort nicht förderlich sind. Dass die Bezeichnung Doktormutter respektive Doktorvater bei manchen, und zwar auf beiden Seiten, ein Gefühl der Klaustrophobie auslöst, kann ich aber auch sehr gut nachvollziehen. Sie räumt dem Persönlichen viel Platz ein, akzentuiert Bindungen und macht aus einer Arbeitsbeziehung ein Nahverhältnis, noch dazu ein familiäres, in der die jüngere Person zum Kind wird.

Von Contzen: Meine Hoffnung ist, dass durch mehr Tenure Track-Professuren – und nur diese sollte es geben, keine befristeten Juniorprofessuren – ein Umdenken einsetzt und es sich bewähren wird, jüngere Wissenschaftler:innen bereits wenige Jahre nach der Promotion auf Professuren zu berufen. Durch die langfristige Perspektive ergeben sich ganz andere Möglichkeiten des Engagements und der Vernetzung, von der Hochschulen nur profitieren können. Und man sollte auch nicht unterschätzen, welche positiven Auswirkungen die damit einhergehende leichtere Vereinbarkeit von Familie und Beruf für die wissenschaftliche Arbeit bedeuten.

 

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Die Online-Tagung „Alma mater, Doktorvater: Die ›Familienaufstellung‹ der deutschen Wissenschaft“ findet am 12. und 13. April statt. Anmeldung zur Teilnahme vorab per E-Mail: familienaufstellung@frias.uni-freiburg.de. Mehr Informationen und das vollständige Tagungsprogramm sind hier zu finden.

JunProf. Dr. Eva von Contzen

ist Fellow am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) und Leiterin

des vom European Research Council geförderten Projekts

„Lists in Literature and Culture: Towards a Listology“.

(c) Universität Freiburg

Dr. Eva Eßlinger

ist Habilitierende an der Universität München und Feodor 

Lynen-Forschungsstipendiatin der Alexander von Humboldt-Stiftung.         

Eva Esslinger (c) LMU

 

Prof. Dr. Julika Griem 

ist Direktorin des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen

und Professorin für Englische Literaturwissenschaft,

zudem Vizepräsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft

und Mitglied des FRIAS-Steuerungsgremiums.                                                

Julika Griem (c) DFG

 

Das Interview führte Ines Bachor, Leitung Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Freiburg Institute of Advanced Studies (FRIAS)