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Die britische Germanistik und der Brexit

Die Strecke Oxford - Freiburg ist ein guter Indikator für europäische Befindlichkeiten. Seit ich vor anderthalb Jahren meine Doppelposition als Professorin für germanistische Mediävistik in Oxford und als Senior Research Fellow am FRIAS angetreten habe, hatte ich reichlich Gelegenheit, Stimmungsbilder von Mitreisenden zu sammeln.

Die Zusammensetzung ändert sich nach Verkehrsmittel und Strecke: Im Überlandbus Oxford nach London sind es internationale Studierende und pendelnde Kollegen, die die teuren Fahrkarten der privatisierten Bahn vermeiden wollen. Auf dem Fahrrad-Treck von der Bushaltestelle nach St Pancras treffen sich an dem Buchungsterminal für die Stadträder regelmäßige London-Reisende, die als notwendiges Übel hinnehmen, dass das von Ken Livingstone initiierte System, das jetzt von Santander betrieben wird, von Boris Johnson als Propagandainstrument für seine Selbstinszenierung als populärer Bürgermeister genutzt wurde. Im Eurostar-Terminal dominieren natürlicherweise europäisch Mobile aller Altersgruppen; die Premier Standard Class zieht viele Ausstellungsbesucher und Städtereisende an. Im Thalys von Brüssel nach Köln sind es eher die habituell grenzüberschreitend lebenden Berufstätigen, die den viersprachigen Ansagen des Zugpersonals lauschen. Auf der Rheinstrecke nach Freiburg taucht man dann in den normalen Mix des deutschen Fernreiseverkehrs ein.

Auf meinen beiden letzten Fahrten waren alle diese unterschiedlichen Gruppen von jeweils einem gemeinsamen Thema verbunden. Im März waren es die Terrorattacken in Belgien. Ich hatte für den 22. März den Eurostar um kurz vor 11 Uhr gebucht und ein reichliches Zeitpuffer eingerechnet, aber als ich am Terminal eintraf, waren die Schlangen nicht vor den Sicherheitskontrollen, sondern vor dem Informationsschalter: es waren die Bomben in Brüssel hochgegangen und  alle Verbindungen in die Stadt gestoppt worden. Bei dem vierstündigen Anstehen, um eine Umbuchung der Fahrkarte zu erreichen, beeindruckte mich die Ruhe und Gefasstheit, mit der das gesamte Personal ebenso wie die Reisenden reagierten: es war das klischeehaft auf T-Shirts reproduzierte 'keep calm and carry on' im besten Sinne. Beim Umsteigen mit einem Tag Verspätung dann in Brüssel war stärker als die erhöhte Polizeipräsenz die Entschlossenheit bemerkbar, alles zu tun, sich die europäische Verbundenheit und Offenheit zu erhalten.

Am Freitag vor zwei Wochen dagegen war von dieser Form von Gelassenheit und empathischer Betroffenheit nichts zu spüren; das verbindende Gefühl im Eurostarterminal war das der Fassungslosigkeit. Gegen alle britischen Konversationskonventionen gerieten bei der Passkontrolle die Anstehenden in politische Diskussionen, die von Schock und Wut der sich europäisch fühlenden Mehrheit der Reisenden geprägt waren. Die Wut richtete sich dabei nur teilweise auf die Brexit-Wähler, stärker auf die Politiker, die wie Boris Johnson und Nigel Farage opportunistisch die Stimmung hochgeheizt hatten. Der gleiche Tenor war auf der ganzen weiteren Reise durch Brüssel, Frankreich und Deutschland zu hören.

Es ist eine Verbindung dieser beiden Reaktionen - Entschlossenheit für das gemeinsame europäische Projekt und Fassungslosigkeit über das Referendumsergebnis -, das den Hintergrund für den Offenen Brief an die deutsche Regierung bildet, der unmittelbar nach Bekanntwerden des Abstimmungsergebnisses entstand.

Initiatorin des offenen Briefs ist eine britische Germanistin, Dr. Charlotte Galpin, die als Postdoktorandin an dem EuroChallenge
Department of Media, Cognition and Communication der Universität Kopenhagen arbeitet. Ihre Veröffentlichungen im letzten Jahr setzten sich mit Europa in der Krise auseinander - aber unter dem Blickwinkel deutscher Identität (open access verfügbar: ‘Has Germany “Fallen Out of Love” with Europe? The Eurozone Crisis and the “Normalization” of Germany's European Identity’). Sie wollte ein Zeichen setzen, um Deutschland gegenüber verständlich zu machen, dass die Austrittsentscheidung nicht die Meinung der jüngeren Briten reflektiert. Sie wandte sich an Sarah Colvin, Germanistikprofessorin in Cambridge und Vorsitzende der Association of German Studies (AGS), des britischen Germanistenverbandes, die sich wiederum mit mir in Verbindung setzte, da sie wusste, dass ich gerade dabei war, Informationen und Meinungsbilder für einen F.A.Z.-Artikel über die Folgen des Brexit für die Wissenschaft zu sammeln.

Das überwältigende Echo, das wir innerhalb der folgenden 24 Stunden auf den zweisprachig konzipierten Brief erhielten, war ein Lehrstück gelingender Wissenschaftskommunikation. Die britische Germanistik ist durch eine gemeinsame Emailliste verbunden, die gegenwärtig in Großbritannien Lehrende ebenso umfasst wie frühere DAAD-Lektoren, Nachwuchsleute aller Qualifikationsstufen und ein an deutschen Themen interessiertes weiteres Publikum. Aus all diesen Gruppen kamen Unterschriften, die wir umschichtig redigierend und addierend dem Brief hinzufügten. Gleichzeitig lief die Vernetzung mit den Nachbardisziplinen auf Hochtouren: von Hannah Skoda, einer jungen Oxforder Historikerin, die sich mit dem deutschen Mittelalter beschäftigt, kam ein weiterer offener Brief, der simultan in vielen europäischen Sprachen an die europäischen Medien verschickt werden sollte; beide Briefe wurden daraufhin gemeinsam auf die Website der AGS hochgeladen und von den vereinten Medienkontakten der anglo-deutschen Community möglichst weit gestreut.

Beide Briefe können weiterhin unterzeichnet werden; der vielsprachige Brief an die europäischen Medien kann direkt auf der iPetitionsseite online unterschrieben werden, für den offenen Brief an die deutsche Regierung können sich anglo-deutsche Unterstützer an die AGS wenden.  http://www.ags.ac.uk/?page_id=275

Es ist dieses gemeinschaftliche Engagement, das wissenschaftliche Themen ebenso wie gesellschaftliche Anliegen umfasst, das das Arbeiten in Großbritannien für mich positiv bestimmt; es ist auch eine Grundstimmung, die ich in der internationalen Gemeinschaft des FRIAS wiederfinde. Ich bin darum sehr dankbar dafür, dass ich in den nächsten acht Jahren noch oft die Gelegenheit haben werde, die Strecke nach Freiburg zurückzulegen; ich bin zuversichtlich, dass, wie auch immer die rechtliche Konstruktion in Zukunft aussehen wird, für Großbritannien wie Deutschland diese Form der Zusammenarbeit eine unabdingbare Voraussetzung für gelingende Wissenschaft sein wird.

Henrike Lähnemann

Lähnemann_FreiburgHenrike Lähnemann ist Professorin für Germanistische Mediävistik an der Universität Oxford und FRIAS-Fellow. Sie hat sich auch in einem eigenen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) zu der Abstimmung über den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union (EU) geäußert.Unter dem Titel "Am Boden zerstört, aber nicht hoffnungslos", berichtet sie von der Rolle britischer Universitäten bei der Mobilisierung für einen Verbleib in der EU und die ersten Reaktionen britischer und europäischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an britischen Hochschulen auf das Ergebnis.Sie gibt zugleich einen Ausblick auf mögliche Folgen eines Austritts für die britische Hochschullandschaft.

Den Artikel finden Sie frei zugänglich und in voller Länge auf der Online-Ausgabe der FAZ.

Eine englische Version des Artikels finden Sie hier.

Einen weiteren Kommentar von Henrike Lähnemann zum Brexit können Sie in der Badischen Zeitung lesen.

Gemeinsam mit Charlotte Galpin, Postdoc an der Universität Kopenhagen, und über 300 Wissenschaftskollegen hat Frau Lähnemann zudem einen Offenen Brief an Angela Merkel geschrieben. Den gesamten Brief mit einer Liste der Unterzeichnenden finden Sie hier. 

Henrike Lähnemann kommt regelmäßig für zwei Monate im Jahr als Fellow an das FRIAS und koordiniert den Ausbau der Oxford-Freiburger Mediävistik Verbindung. Mehr zu den Hintergründen des Fellowships erfahren Sie hier. Weitere Informationen zu Henrike Lähnemann finden Sie hier.

07/2016