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Vom Ende des Kapitalismus in die russische Gedankenwelt

Die „Freiburger Horizonte“ sind mit zwei gut besuchten Veranstaltungen ins Sommersemester 2023 gestartet. Die Buchautorin Ulrike Herrmann und der Freiburger Ökonom Lars Feld stritten über „Das Ende des Kapitalismus“. Die Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulmann skizzierte ein Meinungsbild der russischen Gesellschaft in Zeiten des Krieges.

Das System des Kapitalismus ist auf Wachstum angewiesen, damit es stabil bleibt. Wachstum und Klimaschutz seien jedoch unvereinbar, sodass diese Wirtschaftsweise an ihr Ende komme. So lautet die Kernthese des Sachbuches „Das Ende des Kapitalismus“ der Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann, die sie zu Beginn der Veranstaltung am 17. April 2023 vorstellte. Als Gegenredner für das Streitgespräch war Prof. Dr. Dr. h.c. Lars Feld, Professor für Wirtschaftspolitik und Ordnungsökonomik an der Universität Freiburg eingeladen.

Ulrike Herrmann stellte zu Beginn klar, dass sie sich nicht als Kapitalismusgegnerin verstehe und würdigte den Fortschritt und Wohlstand, den das Wirtschaftssystem in den vergangenen 200 Jahren gebracht habe. Die ökologisch notwendige und von der Politik angestrebte Klimaneutralität werde man jedoch mit dem Kapitalismus nicht erreichen können, da sein Energiehunger ohne fossile Energie nicht gestillt werden könne.

Herrmann plädierte für eine wirtschaftspolitische Weichenstellung in eine ökologische Kreislaufwirtschaft. Als Anregung für die nötige Transformation nannte sie die britische Kriegswirtschaft ab 1939. In dieser sei es gelungen, die Wirtschaft durch staatliche Planung und Rationierung auf die Produktion von Waffen umzustellen, ohne dass eine Krise ausgelöst worden sei – trotz einer schrumpfenden Wirtschaft.

Ulrike Herrmann und Lars Feld streiten über das "Ende des Kapitalismus"

Wie wirtschaften wir in Zukunft? Ulrike Herrmann (links) und Lars Feld diskutierten leidenschaftlich über wirtschaftspolitische Weichenstellungen. Foto: Markus Schwerer

Lars Feld begann seine Gegenrede mit dem Hinweis, dass er lieber über die soziale Marktwirtschaft als „den Kapitalismus“ diskutieren wolle. Die britische Kriegswirtschaft sei nur aufgrund von US-amerikanischen Krediten möglich gewesen, beruhte also auf marktwirtschaftlichen Prinzipien. Planwirtschaftliche Vorhaben führten aufgrund der mangelnden Anpassungsfähigkeit zu keinem Fortschritt. Seine Leittrage lautet daher: Wie schaffen wir im flexiblen Tauschsystem der Marktwirtschaft Lösungen, um die Klimakrise zu bewältigen?

Feld bemängelte, dass bei vielen Prognosen technischer Fortschritt nicht berücksichtigt werde. Er verwies auf Entwicklungsmöglichkeiten für bessere Speichermöglichkeiten von Ökostrom, Möglichkeiten zu Entnahme von CO2 aus der Atmosphäre oder verbesserte Produktionsmethoden zur Herstellung synthetischer Kraftstoffe. Gefördert würden Technologien am besten, indem man über die Bepreisung von CO2 die Verbrennung fossiler Rohstoffe verteuere.

Auf Basis dieser grundsätzlich verschiedenen Positionen entwickelte sich zwischen den beiden Kontrahent:innen ein lebhaftes Streitgespräch, das von Technikzyklen, der Verteilungspolitik, Wohnungspolitik bis hin zur Erkenntnistheorie eine Reihe von Themen beinhaltete. Die Veranstaltung war im Vorfeld auf großes Interesse gestoßen. Die Aula war mit 330 Besucher:innen voll besetzt. Etwa ebenso vielen musste der Einlass auf Sicherheitsgründe verwehrt bleiben. Die Aufzeichnung der Veranstaltung wurde bereits in den ersten vier Wochen nach der Veröffentlichung auf YouTube mehr als 90.000 Mal angesehen und in den Kommentaren angeregt diskutiert.


„Die russische Gesellschaft ist höchst verunsichert“

Wie sich die öffentliche Meinung in Russland seit der Annexion der Krim bis zum umfassenden Krieg gegen die Ukraine entwickelt hat, war das Thema des Vortrages der russischen Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulmann. Sie war am 4. Mai 2023 bei den Freiburger Horizonten zu Gast. Schulmann gilt als eine wichtige Stimme in der russischen Opposition und erreicht mit ihren Analysen auf YouTube Zehntausende Zuschauer:innen. Zuletzt war sie als Fellow an der Robert Bosch Akademie in Berlin.

Schulmann ließ keinen Zweifel daran, dass die Erhebung und Analyse von Umfragedaten in einer von Propaganda geprägten Autokratie nicht mit demokratischen Verhältnissen vergleichbar sind. Es handele sich jedoch nicht per se um Fälschungen. Dem russischen Regime sei es äußerst wichtig, was die Bevölkerung denke. Aus der Kombination verschiedener Datenquellen und deren Langzeitvergleich ließen sich realistische Aussagen über Stimmungen und Einstellungen in der russischen Bevölkerung treffen.

Ekaterina Schulmann bei den Freiburger Horizonten

Was denkt die russische Gesellschaft über den Ukraine-Krieg? Ekaterina Schulmann lieferte wichtige Erkenntnisse zu einem schwer erforschbaren Thema. Foto: Markus Schwerer

Schulmann zeichnete das Bild einer höchst verunsicherten Gesellschaft, die sich selbst nicht kennt. Es gebe keine Öffentlichkeit und allgemein wenig, was die russische Nation eint. „Die russische Gesellschaft ist nicht konservativ, religiös oder kollektivistisch, sondern höchst individualistisch“, sagte Schulmann. Aus ihren Analysen ging hervor, dass der Optimismus in der Bevölkerung und das Vertrauen der Bevölkerung in die Institutionen, das zum Zeitpunkt in den Jahren nach dem „Krim-Konsenses“ im Jahr 2014 seinen Höhepunkt hatte, seit 2017 rückläufig war. Die Einstellung, dass man nur seiner Familie und den engsten Freund:innen vertrauen könne, sei weit verbreitet. Beim Vergleich verschiedener gesellschaftlichen Grupen zeige sich, dass vor allem das Alter eine große Rolle spielt: Die über 60-jährigen „Soviet Baby Boomers“ unterstützen das Regime deutlich mehr als die jüngeren Altersgruppen.

Einen bevorstehenden Kollaps der russischen Gesellschaft aufgrund der aussterbenden Unterstützung für das aktuelle Regime wollte Schulmann auf Nachfrage aus dem Publikum dennoch nicht vorhersagen: „Demographische Prozesse verlaufen sehr langsam. Ich kann mit soziologische Kennzahlen nur einen Eindruck vermitteln, was in Russland passiert. Momentan ist es noch zu früh, um abschätzen zu können, was in Russland passiert."

 

 Text: Dr. Max Bolze, Leiter Presse und Öffentlichkeitsarbeit FRIAS, Mitarbeit: Lilly Kanthak, Emily Schlegel