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Paradigmenwechsel in der Wissenschaft – Abschluss der FRIAS „Lunch Lecture“ Reihe

Wann und wie finden wissenschaftliche Revolutionen statt? Woran zeigt sich, dass sich fundamentale Sichtweisen in der Wissenschaft wandeln? Gibt es qualitative Unterschiede hinsichtlich solch tiefgreifender Wandelprozesse zwischen den Natur- und Lebenswissenschaften einerseits und den Geistes- und Sozialwissenschaften andererseits?

Mit diesen und ähnlichen Fragen beschäftigten sich im Akademischen Jahr 2015/16 Fellows und Gäste des FRIAS in einem guten Dutzend  Vorträgen der FRIAS Lunch Lecture-Reihe zum Thema „Paradigmenwechsel in der Wissenschaft“.

Die FRIAS Lunch Lectures richten sich in erster Linie an Studierende aller Semester sowie interessierte Zuhörerinnen und Zuhörer aus Universität und Stadt. Wohl auch durch diese Mischung kam es nach jedem der Vorträge in dieser Reihe zu spannenden und anregenden Diskussionen.

 

Wissenschaft basiert stets auf der Grundlage bestimmter Annahmen über Probleme, Lösungen und Methoden – sie vollzieht sich also innerhalb bestimmter Paradigmen. Der Wissenschaftsphilosoph und Wissenschaftshistoriker Thomas S. Kuhn definierte schon in den 60er Jahren wissenschaftliche Paradigmen als eine Reihe von Beobachtungen, Begriffsbildungen, Annahmen, Methoden und grundsätzlicher Probleme, mit denen sich die „scientific community“ auf die für sie wichtigsten Fragen und Antworten in der Wissenschaft festlegt. Immer wieder komme es zu einem fundamentalen Wandel dieser Vorstellungen und Neubewertungen, die einen Paradigmenwechsel herbeiführen und letztlich in wissenschaftlichen Revolutionen münden können. Ein Paradigmenwechsel tritt nach Kuhn dann auf, wenn ein geltendes Paradigma an Erklärungskraft verliert, d.h. wenn Abweichungen auftreten, die nicht mehr in die Erklärungsmodelle des bestehenden Paradigmas aufgenommen werden können.

 

FRIAS Fellows und Gäste aus unterschiedlichen Disziplinen wie Linguistik, Literaturwissenschaft, Physik, Geschichts- und Politikwissenschaften, Informatik, Wirtschaftswissenschaften, Islamwissenschaften, Mathematik oder Neurowissenschaften erläuterten in den Lunch Lecture-Vorträgen Fragen wie „Welche Paradigmenwechsel haben in meiner Disziplin stattgefunden?“, „Inwiefern haben neue Technologien dazu beigetragen?“ oder „Ist der Begriff des Paradigmenwechsels überhaupt hilfreich?“. Dabei unterschieden sich die Antworten auf diese Fragen je nach Disziplin. Während es in dem noch sehr jungen Feld der Neurowissenschaften laut Ad  Aertsen, langjähriger Direktor des Freiburger Bernstein-Zentrums für Computational Neuroscience, beispielsweise noch kein Paradigma, geschweige denn einen Paradigmenwechsel gebe, lieferten Riccardo Leoncini (Bologna) für die Wirtschaftswissenschaften oder Stefan Kebekus (Freiburg) für die Mathematik konkrete Beispiele für einen fundamentalen Wandel in der Sichtweisen auf wissenschaftliche Fragestellungen über Zeit. Auch über die Rolle der Technologie bei Paradigmenwechsel wurden verschiedene Standpunkte erörtert. Während die meisten Vortragenden in technologischen Entwicklungen lediglich methodische Neuerungen sahen, sagte Robert Murphy (Carnegie Mellon , Pittsburgh) einen Paradigmenwechsel hin zu automatisierter Biologie voraus, bei der Computer mit Simulationen und Experimenten schon jetzt Antworten auf Fragen liefern, die von Forschern selbst noch nicht einmal gestellt wurden.

Zum Abschluss des Akademischen Jahres traf sich am 19. Juli 2016 der aktuelle Fellow-Jahrgang mit Vortragenden der Reihe zu einem interdisziplinären Kolloquium, um diese und weitere Fragen abschließend noch einmal gemeinsam zu diskutieren. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Geistes- und Naturwissenschaften tauschten sich zunächst darüber aus, welche Paradigmenwechsel in ihren jeweiligen Disziplinen festzustellen sind. Beispiele, die genannt wurden, waren der Wechsel von der Genetik zur Epigenetik oder die neuen Theorien, Modelle und Konzepte der Quantenphysik. Für die Geschichtswissenschaften wurde als Paradigmenwechsel die Tatsache identifiziert, dass der Anspruch der absoluten Objektivität endgültig aufgegeben wurde. Allerdings sei sich die Disziplin noch nicht einig darüber, was an Stelle des Objektivitäts-Anspruches treten solle. Insbesondere im deutschen Wissenschaftssystem sei nach dem Ende des zweiten Weltkrieges deutlich geworden, dass jeder wissenschaftlichen Arbeitsweise eine gewisse „Weltanschauung“ zugrunde liege und dass das Leugnen dieser Tatsache gefährlich sei.

Kontrovers diskutiert wurde die Frage, ob der Begriff des Paradigmenwechsel zielführend sei, oder ob es sich dabei mittlerweile um einen Mode-Begriff handele. In den Geistes- und Sozialwissenschaften wurde recht schnell deutlich, dass der Begriff „Paradigmenwechsel“ oft zu schnell dort fällt, wo es sich lediglich um eine neue Sichtweise handelt, von der noch längst nicht klar ist, ob sie wirklich ein völlig neues Verständnis der Wissenschaft herbeiführt – diese Entwicklungen werden oft eher als „turn“ bezeichnet. Handele es sich dann tatsächlich um Paradigmenwechsel, führe dies wiederum in Zeiten von Drittmittelfinanzierung häufig dazu, dass viele Studien und Publikationen sich diese wie ein „Label“ anheften, um für Fördertöpfe interessant zu werden.

Auch die Frage, ob technologischer Fortschritt der wesentliche Treiber von Paradigmenwechseln (gewesen) sei, wurde stark diskutiert. Derweil neue Technologien in den Naturwissenschaften häufig mit Paradigmenwechseln einhergegangen sind, ließ sich ein direkter Zusammenhang in den Geisteswissenschaften nicht ohne weiteres herstellen. Während einige argumentierten, in den Geisteswissenschaften habe beispielswiese die Digitalisierung alter Schriften zu einem neuen Umgang mit Materialität geführt, sahen andere die neuen Technologien lediglich als neue Instrumente und Methoden, die oft weiterhin mit bestehenden Paradigmen vereinbar seien. 

Andererseits wurde darauf hingewiesen, dass Technologien durchaus neue Herausforderungen an Wissenschaft und Ethik darstellen, was zum Beispiel selbstfahrende Autos, Stammzelltechniken oder die Verwendung von Neuroimplantaten betrifft. Auch in früheren Zeiten hätten technologische Entwicklungen, wie beispielsweise das Eisenbahnsystem im 19. Jahrhundert, dazu geführt, dass Albert Einstein über Relativität nachdachte und mit seiner Relativitätstheorie die Wissenschaft revolutionierte. Einige der Kolloquiumsteilnehmer wiesen darauf hin, dass in vielen Disziplinen zwar nicht unbedingt Paradigmenwechsel, jedoch eine Beschleunigung des Austausches und der Etablierung neuer Erkenntnisse durch die digitale, weltweite Vernetzung stattgefunden hätten. Dies habe zum Beispiel zu einem Trend hin zu transnationaler, vergleichender Wissenschaft wie beispielsweise dem Gebiet der „Global History“ geführt.

Erhöhten Diskussionsbedarf gab es hinsichtlich der Frage, ob und wie Paradigmenwechsel disziplinübergreifend stattfinden können. In vielen Beispielen wurde deutlich, dass sich die Geistes- und Sozialwissenschaften in den letzten Jahren verstärkt von Methoden der Naturwissenschaften haben inspirieren lassen, was sich an „neuro“ und „cognitive“ turns, aber auch an einem gewissen Trend hin zu Quantifizierung und evidenzbasierter Forschung gerade in den Sozialwissenschaften zeigt. Einige sahen in dieser Entwicklung selbst bereits einen Paradigmenwechsel. Ob die Geistes- und Sozialwissenschaften jedoch grundsätzlich von dieser Entwicklung profitiert haben, wurde stark debattiert. Während einige darin eine sinnvolle Erweiterung des Spektrums der Geisteswissenschaften sahen, argumentierten andere, die Fokussierung auf evidenzbasierte Forschung gehe an den relevanten Fragestellungen vorbei. Zwar sei die Abwendung von autoritären Wertungssystemen gerade in den Literatur- und Kulturwissenschaften eine notwendige Weiterentwicklung gewesen – doch die Beschränkung auf reine Datenanalysen und quantifizierbare Faktoren schränke die Aussagekraft sozialwissenschaftlicher Forschung massiv ein. In diesem Zusammenhang entstand eine Diskussion über die Rolle der akademischen Theologie innerhalb des deutschen Wissenschaftssystems, welche im 19. Jahrhundert eine zentrale Rolle bei der Etablierung deutscher Universitäten als weltweite Vorbilder spielte. Insbesondere für die Geschichtswissenschaften spielte Religion eine wichtige Rolle als definierende Weltanschauung – und wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch nationalistische Ideologien ersetzt. Nachdem die Theologie im 20. Jahrhundert an universitärer Strahlkraft verlor, wurde sie gewissermaßen Nebenschauplatz der universitären Bildung. Nichtsdestotrotz stellt sich die Frage, inwiefern gewisse Glaubens- und Wertungssysteme der Theologie durch universitäre Beharrungskräfte in andere Disziplinen gewandert sind.

 

Am Ende eines Jahres intensiven Nachdenkens über Paradigmen und Paradigmenwechsel bleibt die Einsicht, dass Paradigmen nicht mehr unbedingt für eine ganze Disziplin Bestand haben, allerdings für den einzelnen Wissenschaftler und die einzelne Wissenschaftlerin  immer noch wichtige  Orientierung für die eigenen  Forschungsfragen und -projekte geben. Auch können mehrere Paradigmen durchaus nebeneinander koexistieren und müssen etablierte Paradigmen in den einzelnen Disziplinen grundsätzlich immer wieder auf ihre Plausibilität, Tragweite und Erklärungsmächtigkeit im Hinblick auf mittlerweile neu entstandenes Wissen überprüft und weiterentwickelt  werden.

Den Abschluss der FRIAS Lunch Lecture-Reihe zu Paradigmenwechseln in der Wissenschaft bildete am 21. Juli der Vortrag von Veronika Lipphardt (University College Freiburg) zu Paradigmenwechseln aus Sicht der Science Studies. Die große Mehrzahl  der Vorträge in der Reihe ist   als Video-Podcast in  der FRIAS Mediathek verfügbar. Die vielversprechende Kooperation des FRIAS mit dem UCF im Hinblick auf wissenschaftsphilosophische und –historische Themen der Lunch Lectures wird auch im kommenden Wintersemester  fortgeführt.

07/2016